: Zielfoto, bitte recht freundlich!
■ Massenspurt beim 85. Radklassiker »Rund um Berlin«/ Nach 208 Kilometern hatte mit Frank Augustin erneut ein Fahrer aus Frankfurt/Oder den Reifen vorne/ Lob für die Reichsbahn: Alle Schranken waren offen/ Züge hielten sich dennoch zurück
Berlin. Es gibt Jubiläen, die ähneln einer Familienfeier. Die letztjährige Auflage des traditionsreichsten Berliner Radrennens »Rund um Berlin«, bei der es erstmals wieder durch die Schlaglöcher der West-Stadt ging, war so ein Desaster. Der gnadenlose preußische Regen prallte bereits vor dem Start in Monsunstärke auf den Asphalt, so daß die Handvoll Zuschauer lieber in die asbestverseuchte Volkskammer flüchteten. Zu allem Überfluß lockte die damals noch real existierende Volkspolizei als Führungskader die Leithammel des Fahrerfeldes wie Lemminge auf die falsche Fährte. Die Disqualifikation der ersten drei vom rechten Weg abgekommenen Spitzenradler war — zunächst — die ungerechte, doch gesetzeskonforme Strafe. Erst Wochen nach dem Zieleinlauf wurden sie rehabilitiert und in Abwesenheit aufs Siegespodest gehievt.
Aber immerhin: Trotz der Odyssee vom Vorjahr fand »Rund um Berlin '91« statt, was man von anderen Veranstaltungen des abgewickelten DDR-Sportkalenders nicht sagen kann. »Berlin-Angermünde-Berlin« oder »Rund um Forst« — die Organisatoren mußten aus Kostengründen die Radgabel gleich reihenweise abgeben.
Bleibt »Rund um Berlin«, die 85. Folge, also wieder ein Jubiläum, zudem eines mit seltsamen »Neuerungen«: Anders als in der allgemeinen Euphorie des Vorjahres bekam West-Berlin diesmal keinen einzigen Zentimeter Wegstrecke ab. Der Fahrerpulk, der sich vom Alexanderplatz aus gemächlich auf die 208 Kilometer lange Tour begab, versuchte es über die Dörfer. Erkner-Saarmund-Hennigsdorf lautete die Route im Uhrzeigersinn, bevor die Pedaleure in Buch, hoch droben im Nordosten, endlich wieder vom Berliner Publikum gesichtet wurden.
Die Zuschauer werden freilich ihre DDR-Stars von einst schmerzlich vermißt haben. Die »Staatsamateure« Uwe Ampler, Jan Schur, Uwe Raab, Falk Boden oder Olaf Ludwig, die allesamt rund um Berlin Geschichte schrieben, rollen nun gegen harte Devisen durchs lukrative Ausland. Das Terrain haben die Neu- Profis den reinen Amateuren — 166 an der Zahl — überlassen.
Von ihnen rechneten sich vor allem die punktgleich führenden Teams von Olympia Dortmund und HC Hannover die besten Chancen auf die Mannschaftswertung und den Einzeltitel aus. Schließlich verfügten sie mit Rudi Altig (HC) bzw. Hennes Junkersmann (Olympia) über zwei Denkmäler des deutschen Radsports, von denen man nicht nur das Luftpumpen erlernen kann.
Das Organisationskomitee plagten indes andere Sorgen. Doch dann: erleichtertes Aufatmen in der Sprecherkabine. »Gottseidank war keine der zwölf Bahnschranken unterwegs geschlossen. Ein Lob der Reichsbahn!« Ein Hoch auch den Aktiven, die ihren Zeitplan offensichtlich nicht mit dem Fahrplan der Eisenbahner abgestimmt hatten. Mit einer stündlichen Durchschnittsgeschwindigkeit von 40 Kilometern kehrten sie auf Berliner Boden zurück. »Die Spitzengruppe umfaßt ungefähr 50 Mann«, verhieß der Moderator den neugierigen Fans am Ziel des Kurses schier unerträgliche Spannung.
Aber wer seit dem Startschuß fast fünf Stunden lang ausgeharrt hatte, wurde mit einem nur sehr kurzen Vergnügen belohnt. Wild spurtend schwappte eine buntgekleidete Masse über die Ziellinie. Der dabei als einziger seine Arme zur Siegerpose hochriß, mußte wohl der Gewinner sein, dachte sich das Publikum und jubelte der Nummer 280 zu: Frank Augustin vom SC Frankfurt/ Oder. Das Volk behielt recht, wie fast immer in den letzten Jahren.
Der Rest der wadenstarken Pedaleros kauerte inzwischen erschöpft und verunsichert an den Mannschaftswagen und trank den Teamkasten Limonade leer. Sie durften sich getrost zurücklehnen, denn nun geriet die Siegerjury gehörig ins Schwitzen. Who's next? Die Antwort kannte nur das Zielfoto! Jürgen Schulz
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