Es endet immer mit dem Tod

Roland Neuwirth und die Wiederauferstehung der Wiener Schrammelmusik  ■ Von Christoph Wagner

In den Wiener Kaffeehäusern bekommt man den Kaffee üblicherweise mit einem Glas Wasser serviert. Warum das so ist, weiß niemand so recht zu sagen.

„Anderswo ist das Wasser eben gleich im Kaffee. Hier liebt man eher die puren Sachen“, mutmaßt der Liederpoet Roland Neuwirth, Wiener mit Leib und Seele und eine musikalische Institution dazu, um gleich den Bogen zum eigenen Metier zu schlagen: „Das ist wie mit der Musik. Wir echten Wiener sind halt gegen das gestreckte Zeug.“

Welche Art von Klänge der Gitarrist, Sänger und Komponist mit dieser Charakterisierung meint, kann man bei einem Besuch in den Weinlokalen Grinzings leicht herausfinden. Hier rieselt die Pseudofolklore der rührseligen Sorte tagtäglich auf die Touristen nieder. „Nicht einmal im Vollrausch zu ertragen“, urteilt Neuwirth. Ein einziger „riesiger Schmalzberg“, der das echte, das alte „Weanlied“ fast völlig zugedeckt hat. Das ist heute nur noch selten zu hören und dann recht leise. Deswegen muß man genau hinhorchen. Neuwirth: „Gute Musik muß man suchen. Um sie ist es sehr viel stiller, weil sie nur in der Stille zu gedeihen vermag.“

Das könnte ein Grund dafür sein, warum sich der österreichische Sängermusikant seit ein paar Jahren wieder der authentischen „Schrammelmusik“ zugewandt hat, die er in der originalen akustischen Besetzung spielt, wie es vor hundert Jahren üblich war, und warum er auch sonst einen stärkeren Hang zur Tradition verspürt. Das war nicht immer so. Um dahin zu gelangen, mußte er musikalisch einen weiten Weg gehen. 1978, im hundertsten Jubiläumsjahr der Schrammelmusik (ihre „Geburt“ wird üblicherweise mit der Gründung des Originalquartetts der Gebrüder Schrammel im Jahre 1878 gleichgesetzt) tat sich der Wiener Musiker das erste Mal mit einem, wie er heute hintergründig lächelnd zugibt, „Faustschlag in die Pietät des Wiener Liedes“ hervor. Als langhaariger Hippiegitarrist hatte er sich am Allerheiligsten der Wiener „Musi“ vergriffen, den altehrwürdigen Heurigenklängen, die wie ein Schatz von einem Klüngel puristischen Traditionsbewahrer gehütet werden. Auch Neuwirths weitere „Schrammelprojekte“ waren nicht dazu angetan, die Gemüter zu beruhigen. Seine dritte Langspielplatte, auf der er dem „Weanlied“ mit Elektrogitarre und Schlagzeug zu Leibe rückte — Die Geburt der Rockschrammel lautet ihr Titel — sorgte für neuerliche Turbulenzen. Völlig aus der Fassung gerieten die Traditionswächter allerdings, als der Neoschrammler die New Wave zur Danube Wave umfunktionierte und die alte Heurigenmusik mit Disco-Beat und Synthesizern aufpeppte. Ein Experiment, dem er übrigens heute selber kritisch gegenübersteht.

Erst mit seinem aktuellen Quintett gelang es dem Schrammelrebellen langsam wieder, die Wogen zu glätten. Mit seinen „Extremschrammeln“ hatte er zum echten Heurigenklang zurückgefunden, ohne jedoch voll und ganz der Erneuerung abzuschwören: „Volksmusik muß leben“, verteidigt er seine Experimente. „Und sie lebt nur, wenn neue Einflüsse eingehen, wenn sie sich verändert.“ Dabei ist ihm besonders wichtig, es in seiner Musik, „mit dem Wien des 20. Jahrhunderts aufzunehmen“, allerdings von einem Standpunkt aus, in dem die Musik- und Geisteshistorie der noch vor hundert Jahren heimlichen Hauptstadt Europas präsent ist. Für Wiener Verhältnisse nichts Erstaunliches, denn hier in der Donaumetropole — so sagt man — liegt die Zukunft ohnehin in der Vergangenheit. Oder wie es Neuwirth in einem Liedtext ausdrückt: „In Wien geht alles Hand in Hand mit der Vergangenheit.“

Die innovativen Elemente, die bis heute in seiner Musik einen festen Platz einnehmen, kommen aus dem Jazz, dem Blues und dem Soul, kurz: den Popularmusiken des schwarzen Amerikas. Und das ist kein Zufall. Schon als Jugendlicher war er so stark von schwarzer Musik besessen, daß er es der Welt übelnahm, nicht als Farbiger in einem Ghetto geboren zu sein.

Mit der Black-Power-Bewegung und den Rassenunruhen in den USA steigerte sich seine Identifikation mit der unterdrückten anderen Kultur im weißen Amerika in einem solchen Maße, daß er als Baßspieler in einer Jazzband sowie als Bottleneck-Bluesgitarrist versuchte, sich mit Hilfe der Musik eine zweite schwarze Haut überzuziehen. Doch diese — wie er sie im Rückblick nennt — „Identitätsfälschung“ hatte nicht lange Bestand. „Langsam akzeptierte ich, daß ich halt doch a Weana bin.“ Damit fing die Suche nach den Wurzeln an. Er stöberte in den versteckten Winkeln der Musikgeschichte der Donaustadt herum und entdeckte hinter all dem Walzerpomp und Heurigenkitsch — den „Weana Blues“. So lautet seine Bezeichnung für die alte, echte Schrammelmusik, wie sie in der Donaumetropole im 19. Jahrhundert entstanden war. Ihre Ursprünge konnte er im ehemaligen 7. Bezirk ausmachen: dem St. Pauli des alten Wiens. Im Milieu der Huren, Zuhälter und Donauschiffer gediehen die Messerstecher-Lieder, vulgären Erotiksongs und Räuberpistolen aus der Halb- und Unterwelt. Sie waren das genaue Gegenteil von dem, was er bis dahin an Heile-Welt- Schrammeln von Hans Moser bis Paul Hörbinger kennengelernt hatte. Diese drastischen Lieder, aber auch die kernigen Ländlertänze, die mit den Lastkähnen die Donau herunterkamen, fanden Eingang in die kleinen Weinlokale am Rande Wiens, wo Tausende am Feierabend und am Wochenende hingingen, um sich einen Rausch anzutrinken. Ein socher Heurigen-Vorort war Neulerchenfeld, von einer zeitgenössischen Stimme „das größte Wirtshaus des Heiligen Römischen Reiches“ genannt. Von den 155 Häuser des Ortes waren 83 Wirtshäuser, manche mit einer eigenen Musikkapelle. Aus dem Gros der „Bratlmusikanten“ ragte die Kapelle der Gebrüder Hanns und Josef Schrammel hervor — genannt „Die Nußdorfer“ — die nicht das übliche Repertoire spielten, sondern eine hochverfeinerte, kunstvolle Volksmusik, die den Nerv des Publikums traf. „Mit ihren Tönen gehen sie direkt auf unser Herz los“, versuchte damals ein Besucher seine Begeisterung in Worte zu fassen. So stieg ihre Popularität sehr rasch und öffnete ihnen die Türen bis hinein in die höchsten Adelspalais. Walzerkönig Johann Strauß bescheinigte ihnen „künstlerische Bedeutung“, ihre Kompositionen wurden an der Hofoper gespielt und als einziges Volksmusikensemble durften sie vor den Wiener Philharmonikern auftreten. Das machte den Namen „Schrammel“ so berühmt, daß er bald als Bezeichnung für die ganze Musikgattung genommen wurde. Seither versteht man unter „Schrammelmusik“ jene Art konzertanter, volkstümlicher Musik aus Wien, die mit erster und zweiter Violine, Contragitarre, sowie Klarinette oder Handharmonika gespielt wird. Ihre charkteristischen Eigenschaften sind die schwebenden Geigentöne, die selbst in den höchsten Lagen noch zart und weich klingen — „nicht schneidend, sondern wie wenn ein Vogel pfeift“ (Neuwirth). Dazu kommt der samtige Klang der „Knöpferl“, der speziellen Wiener Knopfgriffziehharmonika, berühmt wegen ihres einschmeichelnden Tons. Um ihn zu erreichen, braucht es ein paar Kunstgriffe, die nur die Eingeweihten kennen. Wie Walther Soyka, der Akkordeonist von Neuwirths Extremschrammeln erklärt, wird etwa in den Resonanzkasten der Handharmoniuka ein Zeitungsblatt eingelegt — zum Abdämpfen. Das darf kein „x-beliebiges Blatt sein, sondern muß die Seite 7 der 'Kronenzeitung‘ sein, auf der die vollbusigen Schönheiten zu sehen sind. Erst dadurch bekommt der Ton seinen anschmiegsamen, weichen Klang, schwören die „Quetschenspieler“. Doch der echte Schrammelsound wird erst vollständig durch die ineinanderklingenden Akkorde der Contragitarre, einem ganz speziellen Instrument mit zwei Hälsen, wo auf dem einem Griffbrett normale Gitarrensaiten schwingen, auf dem anderen dicke Baßsaiten.

Im Repertoire von Neuwirths Extremschrammeln haben die reinen Instrumentalnummern ihren festen Platz. Sie lehnen sich stark an ihre großen Vorbilder an und klingen deshalb immer noch „so süß, so innig“, wie vor hundert Jahren — „als ob ein Chor von Engeln die Wiener anstrudeln wollte“ ('Wiener Extrablatt‘, 28. Oktober 1882). Bösartiger, sarkastischer, hinterfotziger geht es dagegen in den Liedern zu, wo der Wiener „Schmäh“ voll zur Geltung kommt. „Der Schmäh vereint den größten Schwachsinn mit der größten Weisheit“ (Neuwirth). Auf der anderen Seite gibt es in den Liedversen des neuen „Schrammelkaisers“ aber auch jenes manchmal etwas selbstverliebte Leiden an der Welt, diese typisch wienerische Melancholie, die — so wird behauptet — mit den Tschechen um die Jahrhundertwende hier Einzug hielt, wo schon einmal Schmelz in Schmalz umkippen kann. Dunkel und schwarz wird die Musik allerdings, wenn die Schwermut in Todessehnsucht übergeht, ein Gefühl, das manche für die Grundstimmung der Donaustadt halten. Neuwirth: „Jedes echte Weanlied endet in der letzten Strophe mit dem Tod.“ Diese bittersüßen Elegien werden ausbalanciert vom „Grant“ — dem typisch österreichischen Grollen gegen die Welt, in dem sich Ärger, Wut und Zorn vereinen.

Wenn Roland Neuwirth dann auch noch seine Schrammellieder nicht einfach nur singt, sondern richtiggehend zelebriert, möchte man geradewegs in den Ruf eines Heurigen-Konzertbesuchers einstimmen, der vor hundert Jahren verzückt hervorstieß: „Das ist scho das Höchste! Höcher geht's net!“

Diskographie:

Neuwirth-Schrammeln: 10 Wienerlieder und 1 Fußpilz-Blues , Preiser-Records SPR3295

Roland Neuwirth: Guat Drauf , WEA-Austria 242209

Roland Neuwirth Extremschrammeln: Waß da Teufel! , WEA-Austria Teldec 246173.

Literatur:

Margarethe Egger: Die Schrammeln in ihrer Zeit , Wien 1989