Wenn die Lastwagen über das Bett rollen

■ Die Avus feiert heute ihren 70. Geburtstag/ Die Ulbrichs wohnen schon ein halbes Leben an der ersten Autobahn der Welt

Wilmersdorf. Rong. Rrroing. Rrrrum. Rrommmmm. Heute feiert die Avus Geburtstag. Röng. Rrruing. Rammm. Vor 70 Jahren, am 24. und 25. September 1921, startete das erste Rennen auf der neugebauten »Automobil-, Verkehrs- und Uebungsstraße«, das Fritz von Opel in seinem »Continental-Cord« mit der Startnummer 1 und durchschnittlich 140 Stundenkilometern gewann. Rrrümmm. Tschoing. Rammmm. Seit 70 Jahren düsen Rennwagen, Laster und Kleinkraftwagen über die erste Autobahn der Welt, seit 70 Jahren rollen ratternde Räder über die Betten der AnwohnerInnen, wenn diese es wagen sollten, die Fenster straßenwärts zu öffnen.

Das Ehepaar Ulbrich macht die Richtung Avus liegenden Fenster ihres Häuschens in der Eichkamp- Siedlung schon lange nicht mehr auf. Ein halbes Leben lang, seit 1948, wohnen sie in Avus-Nähe. »Naja, das ist halt unsere Gegend«, lächelt der immer noch rüstige Renter Harald Ulbrich.

Ganz in der Nähe geboren, wuchs er mit der Autobahn vor der Nase auf, und die Autobahn wuchs mit ihm. Als Klein-Harald im Jahre 1913 gerade laufen konnte, wurde eine acht Meter breite Schneise durch den Grunewald geschlagen. Hier sollte der erste Prototyp einer doppelspurigen und kreuzungsfreien Schnellstraße entstehen, die erste Autobahn der Welt, die freilich diesen Titel noch nicht trug. Zur Rennstrecke wurde sie, als ihre beiden Geraden durch zwei Kurven an den Enden verbunden wurden. Als dann 1921 und in den folgenden Jahren die NSU-Brecher, die Brennabor und die Mercedes-Silberpfeile über die Strecke sausten, kletterte der junge Fan Harald über Zäune und auf Bäume, um die tollkühnen Männer in ihren heißen flitzenden Kisten zu bewundern. Erst später, lacht der heute 80jährige, habe er das normale Eintrittsgeld bezahlt.

So etwas wie Eintrittsgelder mußten damals auch die Autofahrer blechen. Im Norden und im Süden standen Zahlstellen, bei denen Einzel- oder Rückfahrkarten oder gar Monats- und Jahreskarten erstanden werden konnten. Diese Straße, so glaubten die Betreiber der Avus- GmbH, war schließlich auch abseits der Rennen eine besondere Strecke.

Das war sie in der Tat und in vielerlei Hinsicht. Als Harald Ulbrich am Beginn seiner Pubertät stand, schien auch die Avus pubertäre Pickel zu bekommen. Zahlreiche Dellen im damals noch wenig haltbaren Bodenmaterial verwandelten sie in einen »üblen Holperpfad«, so daß die Rennfahrer lieber auf den 1927 neueröffneten Nürburgring auswichen. Dieser Umstand machte sie gleichzeitig zu einer Art Testlabor für die Straßenbauindustrie: Alle möglichen Beläge, ob Beton, Asphalt oder Teerbeton, wurden auf ihr ausprobiert.

Und so wurde auch der Unterboden für die Nazis geschaffen, die auf den der Avus nachempfundenen Autobahnen durchs Reich ihre Räder für den Sieg rollen lassen wollten. Die Avus selbst sollte im Zuge der megalomanischen Umbaupläne Hitlers und Albert Speers an insgesamt fünf Verkehrsringe durch Berlin angebunden werden. Und um die Attraktivität der Rennstrecke als Helden-Forum zu erhöhen, wurde 1937 die alte Nordkurve durch eine Steilkurve ersetzt. »Mordkurve« hieß das 1967 wieder abgerissene Teilstück im Volksmund — es waren nicht wenige Rennfahrer, die dort ihr Leben ließen.

Auch unter den Zuschauern, so erinnert sich Liselotte Ulbrich, gab es immer wieder Tote. Die heute 71jährige Hausfrau zog erst nach dem Krieg nach Berlin. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann hat sie jedoch nie auf der Zuschauertribüne der Avus gestanden, die Raserei ist ihr immer fremd geblieben. Doch auch wenn der frühere Elektriker Harald Ulbrich immer noch glaubt, daß »man Autos ausprobieren muß« und auch Autorennen zu den Angeboten einer Großstadt gehören sollten, so ist sich das Ehepaar einig, daß »der Krach unerträglich sein kann«.

Auch im Garten hinter ihrem Häuschen wurde ihnen schon mancher Mittagsschlaf vergällt. Ein vor rund zwei Jahren gebauter Schallschutzzaun, der ihre Eichkampstraße von der Avus trennt, hat ihre Situation sogar eher verschlimmert denn verbessert: »Jetzt hören wir zwar den Krach auf der Avus weniger«, klagt Herr Ulbrich, »aber dafür hat sich der Lärm auf der Eichkampstraße verdoppelt, weil er durch den Zaun zurückschallt. Besonders schlimm ist es im Winter, wenn kein Laub mehr den Schall dämpfen kann.«

Und während der Rennen. Auch wenn diese, dank der Klage von anderen lärmgeschädigten AnwohnerInnen, nur noch zweimal im Jahr und nicht mehr in der Mittagspause stattfinden dürfen. »Dann flüchten wir oft«, erzählt Frau Ulbrich. Und zum Glück gibt's neuerdings wieder Landstraßen. Ute Scheub