Engels, am Boden liegend, innen hohl und überholt

■ Brückenschlag zwischen allen Zeiten und offener Zukunft: »Berlin Ost. Die andere Seite einer Stadt« — Ein Bilderbuch von Lutz Rathenow und Harald Hauswald

Karl-Marx-Allee in Ost-Berlin zu DDR-Zeiten. Tragbare Gitter versperren den Straßenrand. Ein Volkspolizist davor wendet sich vom Fotographen ab. Rote Fähnchen [»Winkelemente« heißt das! d. säzzer] liegen in der Gosse, auch eines mit dem Emblem der FDJ ist dabei. Einige Plakate lehnen kopfunter an den Gittern. Die Demonstration ist vorbei. Zwei Kinder betrachten den Polizisten, der seine ganze Aufmerksamkeit auf einen Mann mit Fotoapparat gerichtet hält, der halbrechts im Hintergrund erscheint und in diesem Moment von der anderen Seite fotographiert wird.

Oder dieses Bild: Aufstellung von Marx und Engels im »Marx-Engels- Forum«. Marx sitzt schon auf einem klotzigen Gebilde, eine Art Riesenspielwürfel aus einem Kinderbaukasten. Etwas unbedarft schaut er drein, hält sich ordentlich wie bei einem Verhör. Engels liegt noch am Boden, auf zwei Böcken, das Gesicht zur Erde gewandt. An den Füßen erkennt man, daß er hohl ist (das wird man nachher nicht mehr sehen können).

Zwei Bilder aus einem Buch. Lutz Rathenow und Harald Hauswald: Berlin-Ost. Die andere Seite einer Stadt. Als der Text/Bild-Band 1987 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, war es ein Versuch, der allgemeinen Sprachlosigkeit zu entkommen. Heute, neu verlegt im BasisDruck Verlag, ist es Dokument einer Vergangenheit, fast schon ein bißchen DDR-Nostalgie, vor allem in den neu hinzugekommenen Passagen. Die verbietet sich dann aber wieder angesichts der Zeugnisse der realen Diktatur. Was bleibt, ist die profane Geschichte einer Stadt, die sich nicht sofort in die unangefochtene Position einer Bundeshauptstadt begeben kann.

Schon als Kind faszinierte Rathenow die »Stadt«, wie sich Berlin gern selbst nennt. Hier waren die Dinge offen, es gab Möglichkeiten. In der Provinz dagegen schien alles von Ewigkeit her festgelegt. Und West- Berlin lockte, vor dem Mauerbau noch frei zugänglich.

Später trampte er nach Berlin, ließ die Polizeikontrollen vor der Mauerstadt über sich ergehen. Man suchte Gleichgesinnte, an den langen Haaren und den grünen Kutten erkennbar. Übernachtung in der S-Bahn oder auf dem legendären Mitropa- Versorgungsstützpunkt im Ostbahnhof, der die ganze Nacht geöffnet hatte. Hoffnungsvolle sechziger Jahre.

In Berlin war die Stasi stärker präsent als anderswo, und trotzdem zog es aufgeweckte und kritische Geister immer wieder nach Berlin. Da war die Möglichkeit, West-Fernsehen zu empfangen. Die alliierten (westlichen) Soldaten, die durch das sommerliche Berlin promenierten, sich vor den Wachposten am Mahnmal Unter den Linden mit ihren Familien fotografieren ließen.

Hier lebten die meisten Schriftsteller des Landes: Die Kulturpolitik war stark zentralisiert und wurde in Berlin anders gehandhabt als im Rest der ehemaligen DDR. Lutz Rathenow nutzte dieses Pflaster jahrelang für sein kritisches Contra gegen die offizielle DDR-Welt. Wie kaum ein anderer hatte er ein Gespür für die Lücken im Machtsystem. Diese Erfahrungen materialisierten sich nun in seinem Ost-Berlin-Buch.

Harald Hauswald, der mit Rathenow schon vor ihrem gemeinsamen Bildband über Ost-Berlin zusammenarbeitete, lieferte mit seinen Bildern Randansichten der realsozialistischen Gesellschaft. Er fotografierte Punks in der Freilichtbühne Weißensee, Rentner im Kiez. Dem Theaterdonner der offiziellen DDR gewann er immer noch eine witzige Pointe ab.

Hauswald war aus dem sogenannten »Tal der Ahnungslosen« gekommen, wie man jenen Teil der DDR nannte, in dem kein West-Fernsehen empfangen werden konnte. Er zog illegal nach Berlin, brach eine der zahlreichen leerstehenden Altbauwohnungen auf, zahlte die Miete auf ein Konto der Wohnungsverwaltung und blieb einfach dort.

Das Amalgam aus Fotos und Text, das das Ost-Berlin-Buch darstellt, schildert den permanenten Ausnahmezustand, der sich DDR nannte. Es sind die Extreme, denen beide Autoren auf der Spur sind, genug DDR-Grau findet sich allemal noch im Text. Sie gehen unbestätigten Gerüchten nach. Sie lassen sich vom Charme der Szene verführen. Das Ganze ist diskontinuierlich, zerstreut wie »Teile eines Puzzles, das nie zum fertigen Bild gerinnt«. Die Reminiszenzen an den DDR-Untergrund sind dabei nicht ohne Sentimentalität dargestellt. Schrill, laut und proteisch gibt sich die Szene in diesem Buch.

In der Opposition war Einigkeit billig zu haben. Vor der »Folie der Diktatur« (Heiner Müller) reichte eine Andeutung. Die Literatur der Andeutungen ist vorbei, die Differenzierung ist unvermeidlich. Das betrifft auch dieses Buch. Nichtsdestoweniger: Die Suche nach neuen Werten und Welt-Bildern hatte schon lange vor der Agonie des real existierenden Sozialismus begonnen. Die Autoren diese Bandes stehen dafür.

Doch die Beschreibung des nun vergangenen Untergrundes ist nur ein Teil ihres Buches. Rathenow überlegt, was nach der Maueröffnung von diesem Ost-Berlin bleibt. Das Eingesperrtsein der Ostler setzt sich um in Aggressivität. Isoliert von der Welt wurde ihnen noch eine ungeliebte, fremde Ideologie aufgezwungen. Ein junger Mann berichtet, nach Rathenow: »Klar mach ich bei Reservistenübungen der Armee mit. Besonders Übungsschießen. Wir stellen uns immer vor, wir erschießen das Kommunistenpack, das befriedigt.«

Mit dieser Erblast wird die neue Bundeshauptstadt leben müssen. Doch die Entwicklung ist offen, wenn auch nicht in jede beliebige Richtung fortsetzbar. Rathenow muß von Andeutungen und Fortschreibungen reden, weil alles in Bewegung ist, und es ist unmöglich zu beschreiben, was sich nicht nicht ereignet hat. Einst stand das Buch der beiden Ostberliner ganz oben auf den Fahndunglisten des DDR-Zolls, heute ist es eines der wenigen ehrlichen und sauberen Zeugnisse, die die DDR hinterlassen hat. Ulf Christian Hasenfelder

Lutz Rathnow, Harald Hauswald: Berlin-Ost. Die andere Seite einer Stadt. BasisDruck Vlg., Berlin 1987, DM 29,80.