Sevillas Frauen

Max Frischs „Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie“  ■ Von Jürgen Berger

Donna Elvira weiß, was sie will und nimmt sich, wen sie will. Pater Diego ist einer ihrer Liebhaber; für eine Nacht wird der junge Don Juan in die Sammlung aufgenommen, obwohl er ihre Tochter heiraten sollte. Eigentlich kann sie es sich als Ehefrau des Komturs von Sevilla nicht erlauben, aber ihr Mann sieht nicht so genau hin. Man ist in die Jahre gekommen und führt im Sevilla des 17. Jahrhunderts eine moderne Ehe, in einer Zeit schöner Kostüme und opulenter Maskenbälle. Was sich dahinter abspielt, geht niemanden etwas an, und so hat sich Donna Elvira entschlossen, nicht mehr die uns bekannte Liebesleidende zu sein, die sich nach Don Juan verzehrt. „Komm mal her“, sagt Margit Schulte-Tigges, die Darmstädter Elvira, wenn sie sich den jugendlichen Juan schnappt. In ihrer Stimme schwingt das gesammelte erotische Wissen der Komtursgattin mit, und der junge Juan kann nicht anders. Ein Schoßhündchen, das an der Leine eingeholt wird — oder der Verführer als Opfer in den Fängen einer sinnlichklugen Frau.

Donna Elvira trägt, wie alle Frauen in Sevilla, eine Plastikhaut über ihrem Kleid, kreisförmig gebauscht. Das ist gerade Mode. Man liebt den Kreis, während der junge Don Juan die Geometrie liebt. Vor allem aber macht man sich einen Spaß daraus, das Kleid unter der Plastikhaut so zu raffen, daß den Männern Haut geboten wird. Wenn sie zusammenkommen, sind die Frauen so, wie sie Leporelle, Diener des alternden Don Juan, charakterisiert. Sie gurren und girren, nehmen den aktiven Part im Schachspiel der Verführung ein und haben nur einen Gegner: die andere Frau. In Frischs Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie sind die Frauen die Verführerinnen, während die Männer kaum Format zeigen und von Inge Flimm auch so inszeniert werden: Don Juans Vater hat was Trotteliges, der Komtur geht gerade noch als sympathischer Versager durch und Pater Diego darf ein geiler Weinliebhaber mit schönem Tenor sein. „Schöne Isabella von Kastilien“ singt er als Ständchen für die Komtursgattin.

Die Inszenierung dauert genau so lange, daß aus Frischs Anti-Juan keine Klamotte werden kann. Inge Flimm greift nur einmal etwas zu offensichtlich in die Trickkiste — etwas später, wenn die drei fechtenden Vettern auf der Jagd nach Don Juan ein mißlungenes Slapstick-Gezappel auf der Bühne veranstalten. Man kann Sevillas Frauen verstehen, daß es sie angesichts dieser Männer nicht in der häuslichen Stube hält, wodurch sich allerdings ein kleines Problem für die Inszenierung ergibt. Die Frauen zieht es zu Don Juan, dem in die Geometrie geflüchteten Verführer.

Warum das so ist, bleibt allerdings rätselhaft in der Eröffnungsinszenierung des Darmstädter Schauspiels, wo der Start in die neue Spielzeit unter neuer Leitung und mit fast vollständig neuer Mannschaft erfolgt. Zur Erinnerung: Letzte Spielzeit wurde Schauspieldirektor Klaus Weise vom einschlägig bekannten Darmstädter Oberbürgermeister in die Wüste geschickt, weil er der Stadt lebendiges Theater zumutete.

Aber zurück nach Sevilla und ins 17. Jahrhundert, das in Max Frischs Juan-Version wie ein Spiel aus unseren Tagen wirkt. Inge Flimms Frauen sind kalkulierende Figuren auf dem Felde des erotischen Schachspiels, keine Opfer. Selbst die junge Donna Anna wirkt weniger naiv als ihr Verlobter Don Juan. Würde sie Max Frisch nicht wie Ophelia ins Wasser gehen lassen, könnte auch sie irgendwann einmal eine jener ehemüden Ehefrauen werden, die in Sevilla so intensiv auf anderen Weiden grasen. Und wenn zu den Intermezzi im städtisch anerkannten Freudenhaus ein rotschimmerndes Plüschzimmer hochfährt, ist auch das mehr eine Werkstatt der kalkulierten Gefühle denn ein verruchter Venusberg. Sevillas Oberkurtisane Celestina erläutert der jüngeren Miranda, wie das Geschäft der Verführung funktioniert. Alles kreist um dieses Thema — mißlich nur, daß der Inszenierung von Inge Flimm das Zentrum der Kreisbewegungen fehlt.

Dort wo Timo Berndt als Don Juan deutlich machen sollte, warum er vor den Frauen flieht und die Geometrie als mathematisch reinen Fluchtort braucht, ist zuerst nur ein melancholischer Jüngling mit Hang zum Schwärmerischen zu sehen, später dann ein gealterter, etwas verkrätzter und resignierter Don Juan. Den Frauen hat er keinen ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen, nicht einmal die Geometrie, was also könnte sie reizen? Die eigentliche Sinnlichkeit sei die geistige und finde ihren höchsten Ausdruck in der Betrachtung eines gleichschenkeligen Dreiecks, versucht sich Frischs Don Juan als Lebensprinzip zurechtzulegen. In Darmstadt hört sich das so an, als sei nicht einmal er selbst davon überzeugt.

Am Ende will er nur noch die exakte Wissenschaft studieren und exakt zum festgelegten Zeitpunkt essen. Seine Gattin, die zur Herzogin von Ronda aufgestiegene Miranda, läßt ihn aber warten, und so sitzt er da, am großen und kreisrunden Tisch auf Darmstadts Bühne. Beim Essen erfährt er dann, daß er Vater wird. „Mahlzeit“ kann er da gerade noch sagen.

Max Frisch: Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie. Regie: Inge Flimm. Bühne: Johannes Conen. Mit Timo Berndt, Martina Roth, Klaus Ziemann, Margit Schulte- Tigges, Günter Alt, Elisabeth Degen. Staatstheater Darmstadt. Weitere Vorstellungen: 3., 5., 11., 13., 15., 25., 30.10.