Expedition in die fremde Schule

Die Mauer ist weg, doch Berlins Schulbänke sind wie so manches andere in der Stadt säuberlich nach Ost und West getrennt. Ein Austauschprogramm soll nun bei der Vereinigung der beiden Schulsysteme helfen. Viele LehrerInnen aber zögern, schließlich birgt eine solche Expedition in die Fremde zahlreiche ungewisse Abenteuer  ■ VON VERA GASEROW

Zum Abschied gab es allseits Schulterklopfen: „Du schaffst das schon“ und „Viel Glück da drüben“ wünschten die KollegInnen. Es galt offenbar, eine risikoreiche Expedition anzutreten — Ausgang ungewiß, Rückkehrmöglichkeit nach frühestens einem halben Jahr. Dabei führte die Fahrt der tatkräftig Ermutigten nur einige Kilometer weit. Von West nach Ost, von Ost nach West, das ganze innerhalb einer einzigen Stadt, und dennoch ungewohnt wie ein Aufbruch ins Ungewisse. Expeditionsziel war ein fremdes Schulsystem mit neuen Schülern, ungewohnten Verhaltensmustern, anderen Erwartungen und freundlichen, aber scharf beobachtenden KollegInnen.

Nur wenige TeilnehmerInnen haben sich in Berlin bisher zu dieser Expedition gemeldet: Von insgesamt rund 35.000 LehrerInnen sind es nur etwa 400, die an einem Austauschprogramm des nunmehr Gesamtberliner Schulsenats mitmachen. Für mindestens ein halbes Jahr lassen sie sich von ihrem Bezirk in eine Schule im jeweils anderen Teil der Stadt abordnen, von West nach Ost und umgekehrt. Ein Schritt zur Unterstützung des „schnelleren Zusammenwachsens im Schulwesen Berlins“, heißt das in einem offiziellen Senatsrundschreiben. Das Interesse an diesem Zusammenwachsen hält sich jedoch auf beiden Seiten in Grenzen: Trotz beträchtlicher Stundennachlässe und der Zusicherung, daß sie nach Ablauf des Austausches wieder in ihr altes Kollegium zurückwechseln können, fanden sich bisher auf beiden Seiten nur wenige LehrerInnen bereit, den „Schritt nach drüben“ zu gehen. Bequemlichkeit, Angst vor dem Ungewissen und der heimische Stallgeruch überdeckten die Neugierde auf die „Anderen“, die Lust auf eine neue Situation und ein Stück Aufbruchstimmung. „Man wechselt nicht gern ein Kollegium, in dem man sich seit zehn Jahren ganz gut eingerichtet hat“, heißt eine Erklärung von Westseite dafür.

Von West nach Ost

„Daß unsere Lehrer nicht mit fliegenden Fahnen rübergerannt sind, das hat vielleicht damit zu tun, daß hier noch ein Stück Heimat ist“, mutmaßt man im Osten. Für beide Seite gilt wohl, was ein Ostberliner Schulleiter vermutet: „Die Mauer in den Köpfen hängt noch ganz schön nach.“ Volkmar Kleemann ist einer von denen, die versuchen wollen, die Mauer in den Köpfen zu überspringen. Seit Schuljahresbeginn ist er von der Weddinger Theodor-Heuß- Schule in die 3. Gesamtschule im Bezirk Mitte gewechselt, die noch vor nicht allzulanger Zeit „POS Willi Bredel“ hieß. Dort hat er am ersten Schultag sein Fach von allerlei „Gerümpel und altem Schrott“ befreit und sich vor die Klasse gestellt: „Ich bin der Neue. Ich komme aus dem Westen. Ich mach jetzt hier Geschichte.“

So ganz freiwillig oder gar mit karitativem Aufbauimpetus ist auch Volkmar Kleemann nicht in diesem Platten-Schulbau mitten in Berlins neuem Zentrum gelandet: „Der Anstoß, rüberzuwechseln, kommt fast immer aus der Unzufriedenheit mit der Situation im Heimatbezirk.“ Kleemann selbst fand das Klima in seinem alten Bezirk im Westen zunehmend unangenehm und sah für sich dort keine Perspektive mehr. Er ließ sich — lange vor den „Klugsprüchen unseres Senators“ über Partnerschaften und Lehreraustausch — bei der GEW auf eine Liste von Interessenten setzen, die den Ost-Kollegen beim Aufbau neuer Gesamtschulen ratgebend zur Seite stehen wollten. Aus diesem ehrenamtlichen Engagement entstand der Kontakt zur 3. Gesamtschule, wo Kleemann von der 8. Klasse an aufwärts nun Erdkunde und Geschichte unterrichtet.

Seit Anfang August packt Kleemann jetzt seine „pädagogische Trickkiste“ vor SchülerInnen aus, die zuvor jahrelang durch ein völlig anderes Schul- und Gesellschaftssystem gelaufen sind. Was ist anders, wie reagiert man auf ihn, den Wessi? Auf den ersten Blick zumindest scheint alles ganz normal und erstaunlich selbstverständlich: Sicher, da gibt es einige Sprachprobleme, da kennen Schüler und Kollegen den Overhead-Projektor nur als „Polilux“, und wenn jemand nach dem „Kleinbildwerfer“ fragt, dann weiß Kleemann inzwischen, daß damit der Dia-Projektor gemeint ist. Aber ansonsten läuft der Wechsel mit einer beinahe schon unheimlichen Reibungslosigkeit: Die SchülerInnen greifen neugierig, bald auch routiniert nach den neuen Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien. Daß der alte Staatsbürgerkunde-Unterricht jetzt anders heißt, ist ihnen schon in Fleisch und Blut übergegangen, und der Lenin im Foyer der Schule ist zeitgemäß durch eine umweltbewußte Collage über Verpackungsmüll ersetzt. Doch hin und wieder wird bei den SchülerInnen doch Verunsicherung und ein gewisser Unwille über den Wechsel in ein ihnen unbekanntes System sichtbar. Das macht sich im Unterricht an kleinen Wortwechseln bemerkbar, wenn etwa bei 28 Grad im Schatten die Klasse den West-Lehrer provozierend fragt, ob es „bei diesem Westzeug“ denn auch so etwas wie hitzefrei gebe. Vor allem aber das schwer durchschaubare Punktesystem bei der Benotung stößt auf offenen Unwillen. Daß sie Abschied nehmen mußten von ihrem alten Zensurensystem, kreiden einige SchülerInnen nun den LehrerInnen aus dem Westen an. Vor allem in den 10. Klassen, die am Ende des Schuljahres vor der Frage der Berufswahl stehen, registriert Kleemann eine starke Verunsicherung, die sich teils in Desinteresse teils in Überreaktion und Disziplinlosigkeit Luft macht. Jahrelang an Frontalunterricht und an das Aufsagen allseits bekannter Merksprüche gewöhnt, wissen die SchülerInnen jetzt nicht so richtig, wie sie auf sich aufmerksam machen können. Welches Verhalten bringt die nötige Punktzahl ein, die doch der Schlüssel für den künftigen Beruf ist?

Daß Kleemann ein Wessi ist, das hat ansonsten — soweit es hörbar und spürbar ist — niemanden in der neuen Schule gestört, im Gegenteil. Zumindest die KollegInnen freuen sich noch, daß „der Neue“ einiges an Know-how mitbringt und man ihn in unsicheren Situationen fragen kann, „wie man das denn jetzt so macht“. Auch der Gehaltsunterschied ist bisher kein Thema. Dabei verdienen die Westlehrer — da offiziell von ihrem Heimatbezirk nur in den Osten „abgeordnet“ — immerhin 40 Prozent mehr als ihre neuen KollegInnen. Kleemann zum Beispiel liegt damit weit über seinem Schulleiter, aber dafür, so scherzt er sarkastisch, „darf ich ja auch mehr arbeiten“. Volkmar Kleemann selbst gerät über seine neuen KollegInnen nahezu ins Schwärmen: „Die sind dermaßen motiviert, was Neues zu machen. Die wollen was! Bei uns hätten die Lehrer längst gemeckert, wenn sie die Terminliste mit all den Fachkonferenzen und Sitzungen gesehen hätten.“ So einen Elan, erinnert sich der West-Lehrer beinahe nostalgisch, hat er zuletzt in seiner Referendarszeit erlebt — und das ist schon ein paar Jährchen her.

Ja — und? Fehlt da nicht noch etwas bei der Betrachtung der neuen KollegInnen? Was ist mit deren Vergangenheit? Was mit ihrer pädagogischen und fachlichen Qualifikation? „Inhaltlich und methodisch“, meint Kleemann, gebe es da gar keine Probleme. „Die gehen mit den neuen Büchern sehr sicher um. Auch die ideologischen Probleme scheinen nur gering zu sein. Das geht fast ohne Bruch.“

Von Ost nach West

Ob nicht gerade das das Unheimliche ist, was mißtrauisch macht gegenüber dem neuen Kollegium? Kleemann wendet das anders: Er fragt sich nach den ersten Erfahrungen in seiner neuen Schule eher, welches Bild er denn von der DDR-Gesellschaft vor der Wende hatte. Wie verblendet und realitätsfremd er selber dabei gewesen ist! Nun hat er das Gefühl, erst jetzt einen Blick in dieses Leben zu werfen.

Kleemanns Kollegin Sabine Siek hat ihr bisheriges Leben in dieser Gesellschaft verbracht. Seit Schuljahresbeginn hat auch sie die Seite gewechselt. Sie ist in die umgekehrte Richtung, in den Westen gegangen — und auch das nicht ganz freiwillig. Was bei Kleemann der Unmut über das Schulklima war, war bei Sabine Siek die existenzielle Angst um den Arbeitsplatz. Ostberlin — so liest sich das in den Senatsstatistiken — hat einen Lehrerüberhang von rund 1.400 Stellen. Und da konnte Sabine Siek sich ausrechnen, daß sie im Osten mit ihrem Fachgebiet Mathe und Physik nicht ausgelastet gewesen wäre und vielleicht als eine der ersten auf der Entlassungsliste gestanden hätte. Also wechselte sie dorthin, wo man sie tatsächlich brauchte, in den Partnerbezirk Wedding im Westen, obwohl sie eigentlich lieber im Osten gearbeitet hätte. Mit ihren Fächern, weiß Sabine Siek, hat sie „eigentlich noch Glück gehabt“. Sie gehörten zu den ideologisch unbelasteten. Gut, da gab es Aufgaben im Physik-Unterricht, wo man anhand von Armee-Bildern Flugbahnen und Dreiecke berechnen mußte. Aber nun, meint die junge Ostlehrerin, ist aus dem NVA- Hubschrauber eben eine Rot-Kreuz- Maschine geworden, und die „geneigte Ebene“ heißt „schiefe Ebene“. Das macht kein Problem. Die einst ideologisch besetzten Fächer wie Geschichte oder Staatsbürgerkunde, jetzt neu gewendet zu unterrichten, nein, das hätte sie nicht gekonnt, weder im Westen noch im Osten.

Wenn Sabine Siek von ihren ersten Schulerfahrungen im Westen erzählt, klingt häufig eine Mischung aus Verunsicherung, Resignation und Auflehnung durch. Die KollegInnen an der neuen Schule hätten sie überaus herzlich empfangen, und eigentlich fühle sie sich nicht viel fremder als in einem anderen neuen Kollegium. Aber wirklich zugehörig fühlt sie sich doch zu denen im Osten. Genauso viel zu verdienen wie ihre neuen KollegInnen im Westen, das wäre ihr deshalb auch sehr peinlich, „weil es doch ungerecht wäre, gegenüber all meinen alten Freunden und Bekannten“. Mit den neuen Schülern, denen sie am ersten Schultag mit reichlich Herzklopfen gegenübergestanden hatte, gäbe es bisher wenig Probleme, berichtet Sabine Siek. „Irgendwie anders“, seien die schon, und um „einiges lauter als früher“ hat sie es jetzt in der Klasse. Vor allem an das Temperament der vielen ausländischen Schüler muß sie sich erst noch gewöhnen. Aber Probleme? Nein, eigentlich nicht — nur, daß es sie doch gibt, die kleinen Stiche, mit denen Schüler sie unsanft auf ihr „Ossi-Sein“ stoßen: „So etwas macht man bei uns nicht“, bekam sie prompt zu hören, als sie — wie von früher gewohnt — Schüler aufforderte, vor die Klasse zu treten und eine Aufgabe zu referieren. Im Mathe-Unterricht erntete sie die abfällige Feststellung: „Sie unterrichten doch sicher nur den C-Kurs“ — den leichtesten also. Das konnte Sabine Siek kontern: „Über kurz oder lang werden Sie schon merken, daß ich mehr weiß als Sie, obwohl ich aus dem Osten komme.“ Und doch ist sie jeden Tag nach Unterrrichtsschluß erleichtert, wenn die S-Bahn am Alexanderplatz endlich wieder heimisches Terrain anzeigt.

Ost-westliche Mischung

Sabine Sieks Kollegin Lena Schraut fährt jeden Tag zig Kilometer über die Stadtautobahn von West nach West und dennoch nach Ost. Seit Anfang März unterrichtet sie in einer Schule im West-Bezirk Spandau. Nur dort sitzen, dank der Eingemeindung eines früheren DDR-Ortes, überwiegend Ost-SchülerInnen auf den Schulbänken. Auch das Kollegium ist Ost-West gemischt. Anders als ihre Austausch-KollegInnen arbeitet Lena Schraut nicht erst seit Schuljahresbeginn in dieser merkwürdigen Ost-West-Wechsel-Konstellation und hat dabei etliche ungewohnte Erfahrungen gesammelt, die nicht immer einfach zu bewältigen sind. Da ist einmal die große Verunsicherung und Empfindlichkeit, die sie bei ihren SchülerInnen aus der Ex-DDR registriert: „Die sind sehr schnell beleidigt, weil sie immer das Gefühl haben, über den Löffel barbiert zu werden. Man spürt sehr deutlich, daß nicht nur den Erwachsenen eine Gesellschaft abhanden gekommen ist, sondern auch den Kindern.“ „Was ist denn das für ein Unterricht, wo jeder machen kann, was er will!“ mußte Lena Schraut sich schon öfter von ihren Schülern vorhalten lassen und „daß kein Zug“ in ihrem Unterricht ist. „Nur, wenn ich Zug reinbringe, finden sie das gleich ganz ungerecht.“ Überhaupt sei das doch gar keine richtige Lehrerin, die mit einem so kurzen Rock herumläuft und während des Unterrichts auf der Stuhllehne wippt, befanden die SchülerInnen. Und als sie dann noch erfragten, daß diese Lehrerin viermal so viel verdient, wie ihre Mütter zu Hause, schienen Irritation und das Gefühl abgrundtiefer Ungerechtigkeit perfekt. Viele SchülerInnen retten sich über ihre Verunsicherung durch die Flucht in Formalitäten. Mit denen versuchen sie dann, die West- Lehrerin aufs Glatteis zu führen. Peinlich genau achten sie darauf, ob auch streng dem Lehrplan gefolgt wird. Wenn was nicht „im Plan ist“, die neue Lehrerin es aber dennoch wichtig findet, dann hagelt es Protest.

Dieses Klammern an Formalien und Richtlinien beobachtet Lena Schraut auch bei ihren neuen KollegInnen aus dem Osten: „Die gehen mit einer ungeheuren Gewandtheit mit Punktsystem, Kursheften und Rahmenplänen um. Die wissen immer ganz genau, welcher Hefter welche Farbe haben muß und wie etwas vorschriftsmäßig ist“, stöhnt Lena Schraut, „die beherrschen all das, woran ich mich auch nach Jahren einfach nicht gewöhnen will.“