Der Paradeplatz atmet historische Leere

■ Der Marx-Engels-Platz: Einst Sitz der Monarchie und der SED, heute ein schnöder Parkplatz, entladen von aller Macht/ Im Lustgarten wuchsen die ersten Mark-Kartoffeln/ Der Soldatenkönig und die Nazis ließen ihn als Aufmarschplatz planieren

Marx-Engels-Platz. »Wat hier drin is? Nee, det weiß keener so richtich«, schüttelt der Polizist den Kopf. Er schiebt Wache im Eingang des ehemaligen DDR-Außenministeriums, das sich inzwischen Hans-Dietrich Genscher unter die Fittiche gerissen hat. »Auswärtiges Amt« verkündet ein Schild auf der weißkalten Fassade des Klotzes, der an der Westfront des Marx-Engels-Platzes die Blicke stolpern läßt. Ein einziger Mercedes aus Bonn parkt im Blickwinkel der alten Überwachungskameras. Hans-Dietrich wird das häßliche Teil auch nicht mögen. Und dennoch ist es typisch für die Geschichte des Platzes, daß er gleichwohl nicht darauf verzichtete. Hier haben die neuen Machthaber stets demonstrativ die alten verdrängt und ihre Symbole planiert, abgerissen, weggesprengt. Geschichte in Schichten, die in deutscher Vergangenheitsbewältigungsmanier abgetragen und weggeschleift wurden. Und nun will sich ja auch noch der begnadet spätgeborene Kanzler am liebsten auf den Trümmern der früheren Volkskammer niederlassen.

Derzeit aber atmet der Platz eine geradezu historische Leere. Zwischen den beiden Spree-Armen, wo seit 1442 das Schloß der Kurfürsten, Könige und des Kaisers thronte, parken heute Trabis und Touristenbusse. Die kleine Tribüne an der Spree, auf der die Feudalsozialisten der SED die befohlenen Massenaufmärsche überwachen konnten, ist von mildem Gras überwachsen. »Live dabei«, davon kündet nur noch eine abblätternde Parole im asbestverseuchten Palast der Republik. Bloß im nördlich gelegenen Lustgarten, der 1951 dem Marx-Engels- Platz zugeschlagen wurde und im April 1991 wieder seinen alten Namen zurückerhielt, finden sich unter Linden ein paar TouristInnen.

Dort war es, als der Kurfürst Johann Georg im Jahre 1573 seinen Gärtner beauftragte, »allhier hinder unserm Schloß am Thiergarten einen Newen lustgarten, darauß wir allerley unser küchen nottdurfft haben mögen, zu erbawen und zuzurichten«. Fortan wuchsen hier Küchenkräutlein, Spargel und »Tartuffel« — die ersten Kartoffeln, die in der Mark angepflanzt wurden. Der Große Kurfürst Friedrich II. ließ den Kraut- und-Rüben-Garten zu einer repräsentativen Anlage mit Springbrunnen, seltenen Bäumen und sprechenden Vögeln erweitern. Doch das war dem preußischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. viel zu viel der Lust: Er verbannte die Papageien und Statuen ins Exil im Schloß Charlottenburg und ließ den Garten zugunsten eines Exerzierplatzes abrasieren. Der Platz sei »jetzo ganz applanieret«, vermeldete ein Zeitgenosse im Jahre 1713. Auch unter Friedrich dem Großen wurde der Frustgarten als Paradeplatz genutzt. Dort marschierten seine »Langen Kerls«, und an Festtagen wurden Lanzen und Speere auf »Medusen und Türkenköpfe« geworfen. Erst Friedrich Wilhelm III. ließ den Platz wieder zum Garten mit Kieswegen und Bänken für das Publikum werden und animierte Schinkel zum Bau des klassizistischen »Alten Museums« an seiner Frontseite.

Solange das — ebenfalls immer wieder veränderte — Stadtschloß noch stand, war der so falsch benannte Lustgarten einer der wichtigsten Plätze für Demonstrationen von Macht und Gewalt. Hier huldigte man 1840 dem Krieg, hier proklamierte Kaiser Wilhelm II. 1914 den Ersten Weltkrieg, hier bauten schließlich die Nazis ihr »Aufmarschforum des Dritten Reiches«. »Der Lustgarten wird eingeebnet«, meldete der 'Völkische Beobachter‘ 1935 ganz unverblümt. Ein Springbrunnen wurde abgerissen, das Denkmal von Friedrich Wilhelm III. zur Seite gerückt und das Ganze mit Platten zu einem Versammlungsort für 30.000 Menschen vergrößert.

Der Krieg marschierte darüber hinweg und die Rote Armee. Die neuen Herren beschlossen erneut, die Vergangenheit einzuplanieren und einen noch größeren Paradeplatz zu schaffen. »Das Zentrum unserer Hauptstadt, der Lustgarten und das Gebiet der jetzigen Schloßruine müssen zum großen Demonstrationsplatz werden, auf dem der Kampfeswille und Aufbauwille unseres Volkes Ausdruck finden können«, verkündete Walter Ulbricht auf dem dritten Parteitag der SED. Einen Monat später, im September 1950, gaben 13 Tonnen Dynamit dem halbzerstörten Barockschloß den Rest. Nur das ideologisch gereinigte Eosanderportal — von hier aus hatte Karl Liebknecht am 9.November 1918 die Sozialistische Republik ausgerufen — blieb erhalten und wurde Mitte der 60er Jahre in das Staatsratsgebäude eingebaut. Alberne Symbolhandlungen, wohin man blickt: Auch die zwei Steinwürfe entfernte Machtzentrale der DDR, den Sitz des ZKs der SED in der Kurstraße, transformierte man per Postadresse auf den Marx-Engels-Platz.

Der malträtierte Platz wird wohl nie zur Ruhe kommen. Nun, da die Roten schlecht und die Preußen gut sind, wollen diverse Volksvertreter den Palast der Republik und das DDR-Außenministerium abreißen und das wilhelminische Schloß wiederaufbauen. Das Bundesfinanzministerium hält die ehemalige Volkskammer »für Zwecke des Bundes nicht verwendbar«, zumal die Asbestsanierung ein Loch von rund 200 Millionen in die eh schon leere Haushaltskasse reißen würde. Eine Wiederauferstehung des Kaiserschlosses hingegen, die gegen ein bis zwei Milliarden Mark Cash aus dem Boden zu stampfen wäre, treibt einem Großteil der Berliner SenatorInnen und manchen Bonnern Tränen der Rührung in die Augen. Auch wenn die ExpertInnen noch so oft darauf verweisen, daß von den ehemals 1.400 Räumen des Schlosses nur ein Viertel fotografisch dokumentiert ist, auch wenn Bausenator Nagel noch so sehr schimpft, daß »wir nicht in Disneyland« seien.

Wie sagte doch der Schupo, der das »Auswärtige Amt« bewacht? »Nee, ick weeß nich, wat hier läuft, aber verrückt is et bestimmt.«

Ute Scheub