Das kennen wir bereits

■ "Es gibt keine kollektiven Staatstäter - Schuld ist immer individuell", taz vom 20.9.91

betr.: „Es gibt keine kollektiven Staatstäter — Schuld ist immer individuell“, taz vom 20.9.91

In der Tat handelt es sich bei dem sogenannten Mauerschützenprozeß nicht um einen Schauprozeß. Die Angeklagten waren und sind selbstdenkende Individuen, die auch in der fraglichen Nacht einen Spielraum hatten zu entscheiden, welcher Art sie handeln wollten. Den Prozeß als einen Schauprozeß zu stempeln heißt, die Individualität zu verabschieden, bedeutet, die Partizipation einzelner, für Null und Nichtig zu erachten.

Das allerdings kennen wir bereits. Der Grund der maßlosen Freisprüche der NS-Verbrecher beruhte wesentlich darauf, daß die Richter sich zum Prinzip gemacht hatten, als einzige Täter des NS-Regimes Hitler, Himmler, Heydrich zu sehen und all die anderen, die tatsächlich geschossen, gespritzt, vergast hatten, als Beihelfer zu qualifizieren mit der Folge von Freispruch oder lächerlich geringen Strafen. Vor allem aber mit der ideellen Folge, daß niemand es gewesen war. Aus der These von der kollektiven Schuld aller Deutschen wurde so die kollektive Nichtschuld aller real Beteiligten.

Die DDR nun war allerdings kein totalitärer Staat wie der NS-Staat, um so näherliegend die individuelle Verantwortung. Daß andererseits die Betonung der individuellen Schuld eine lächerliche Akzeptanz der Schuldtheorien ist, die unserem Strafrecht zugrunde liegen, sollte öfters einmal nicht übersehen werden und sollte Skepsis erzeugen gegenüber der Annahme eines stets freien und eigenverantwortlich handelnden Individuums. Immerhin ist es die Gesellschaft, die schuldig spricht, schon dadurch ist die Schuld ein auch soziales Problem. Julia Albrecht, (West-)Berlin