ESSAY
: Eine zweite Renaissance

■ 1992 als Jahr der Kartographie freier Kulturen

Woher stammen die Nationen? Aus welchen Gegebenheiten, Daten, Ereignissen oder Sprachen? Was sind die Staatsformen, die ihnen Form geben? Und wie konstituieren sie sich, diese rätselhaften, explosiven Gebilde?

Schon letztes Jahr stellten wir uns diese Frage in bezug auf Kuwait. Welchen Zufällen und Notwendigkeiten entsprach dieses Gebilde auf der Landkarte der Geschichte?

Schauen wir uns Reclus' Grande Géographie aus dem Jahr 1912 an. Der Herausgeber: ein Bruder des anarchistischen Theoretikers Elisée Reclus, Mitglied der Pariser Kommune. Auf Seite 135 von Band 2 lesen wir eine Beschreibung der „Forderungen der Nationalitäten“, Teil eines Kapitels über die Habsburger Monarchie. Neben Tschechen und Mähren stehen hier „die Süd- oder Jugo-Slawen, die davon träumen, mit den Slawen des Balkans und der Türkei (Anm.: also den Serben) einen riesigen unabhängigen Staat zu bilden“. Etwas weiter: „Auch die Kroaten und Serben protestieren gegen die oppressive Zentralisierung, unter der sie leiden und die derjenigen ähnelt, welche die Magyaren einst den Österreichern zum Vorwurf machten.“ Und der illustrierte Grand Larousse in 7 Bänden aus dem Jahre 1900 unterstreicht, die Kroaten seien „im Zentrum der Bewegung“ welche er Jugo-Slawien nennt.

Seien wir also präzise: Das große jugoslawische Projekt wurzelt in der Strömung, die der kroatische Patriot Ludevit Gaj nach 1816 gründete, und seinen Namen verdankt es dem Verbot der Bewegung „Illyrien“ durch Österreichs Kaiser Ferdinand, eine Bewegung, die alle Südslawen vereinen wollte...

Heute liest man in der Presse von „Wunden“, die wieder aufgebrochen werden, von Ustascha und Tschetniks im Zweiten Weltkrieg, die sich gegenseitig liquidierten. Schrieb nicht schon der Philosoph Georges Bataille im Jahre 1937 von der „Welt, mit Vaterländern übersät, wie ein Mensch mit Wundmalen“?

Bataille wollte hiermit den Unterschied zwischen dem nazistischen Ultrachauvinismus und dem verzerrend vom Hitlerreich angeeigneten Denken Nietzsches verdeutlichen. Er betont die Ablehnung des „Rassenwahns“ durch Nietzsche, dem schlecht wurde, „wenn der Name Zarathustra dem Munde eines Antisemiten entspringt“. Und in den 1880er Jahren verkündete Nietzsche „das, was mir wichtig ist und was ich kommen sehe: das eine Europa“. Dies sei die Aufgabe „aller tiefen Geister: das Europa der Zukunft“. Der europäische, antinazistische Nietzsche vereint sich hier mit seinem Haßbruder Rousseau, der schon 1756 die „Republik Europa“ forderte, die „Konföderation“, wie er bereits sagte.

235 Jahre später, am 15. Juni 1991, traf sich in Prag ein Forum zur Herstellung einer europäischen Konföderation unter Leitung von Václav Havel und Fran¿ois Mitterrand. Letzterer war es, der am 31. Dezember 1989 das Jahr der osteuropäischen Revolutionen mit dieser Idee abgeschlossen hatte. Havel hatte die Idee bei einem Besuch im Elysée-Palast am 19. März dieses Jahres wärmstens begrüßt. Aber seltsamerweise ist der Vorstoß bis heute ohne Inhalt geblieben. ... Die Idee der Konföderation wird so zu einer Art Warteschleife beim Eintritt in die EG, die als einzige Lösung der Europa-Gleichung gilt.

Aber „der größte Bodenkrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg“, der jetzt zwischen zwei Völkern mit derselben serbokroatischen Sprache stattfindet, welche 1912 noch zusammen die „Süd- oder Jugo- Slawen“ in einem „riesigen unabhängigen Staat“ vereinen wollten — ist er nicht ein Signal dafür, daß jetzt schnellstmöglich die friedenstiftenden Umrisse einer solchen Konföderation erdacht werden? Daß jetzt Rousseaus Bild einer „Republik Europa“ reell werden muß? Die Regeln des EG-Wirtschaftsraumes und seine vierzigjährige Vorgeschichte verdienen wahrlich intellektuelle Aufmerksamkeit. Aber eine politische Strategie zur Vereinigung Europas wäre ein geschichtsstiftender Wurf.

Was ist die „Konföderation“? Sie ist ein Raum, in dem die Regeln des Eintritts in die EG und in ihren Wirtschaftsraum für alle klar ausgeführt sind. Sie ist vor allem der Raum, wo sich nationale Differenzen auf friedlichem Wege artikulieren können, innerhalb einer realen Struktur, die zu einer anderen Wahrnehmung von Konfliktsituationen führen wird. Vor 1789 existierte auch in Frankreich kein einheitlicher Wirtschaftsraum, das Land war von ökonomischen Grenzen und Zollschranken durchzogen. Doch es war eine reale historische Einheit, ein kriegsfreies Territorium für seine Bewohner. Und seit 1950 ist EG-Europa der Ort, wo die großen Kriege der Vergangenheit — Frankreich gegen Deutschland, gegen England und gegen Spanien — nunmehr als Bürgerkriege und daher als zukünftig undenkbar erscheinen.

Die Konföderation ist der Raum, wo Nationalitätenkriege undenkbar sind.

In Prag wurde vorgeschlagen, eine Gründungsversammlung einzuberufen, um über die gemeinsamen und partikularen Grundlagen eines vereinigten Europa nachdenken zu können. Havel und Mitterrand erinnerten an den Versuch einer europäischen Einigung des Königs von Böhmen im Jahr 1463: in einem „Traktatus“, das den Begriff „Konföderation“ mit dem lateinischen Wort „Universitas“ umschrieb: ein Kernbegriff, der als „Universität“ die Städte Paris, Bologna, Oxford, Salamanca, Prag, Krakau, Neapel, Kopenhagen in einer Gemeinschaft zusammenführte. „Universitas“ — das ist die Operationalisierung von Europa.

Daher kam der Vorschlag einer Gründungsversammlung jetzt von der Europäischen Universität, deren Teile sich heute in Paris, Barcelona, Frankfurt/Oder und im ukrainischen Ujgorod zusammentun.

Der „Traktatus“ von 1463 bildete die Morgenröte der Renaissance. An ihrem Ende stand ein leuchtendes, aber zersplittertes Europa, 400 Jahre lang zu Nationaliätenkriegen verurteilt. Sollte der neue „Traktatus“, der jetzt anstünde, nicht versuchen, die „Nationenangst“ zu überwinden, so wie man Höhenangst meistert? Wenn die geforderte Gründungsversammlung möglicherweise im Jahre 1992 zusammentritt, könnte sie eine neue Kartographie freier Kulturen erstellen — eine zweite Renaissance.

1992 — ein Jahr, das Europa auch mit anderen Kontinenten verbindet, mit der arabischen Welt durch die Spanienkriege, mit Amerika durch die Reise von Kolumbus, mit Afrika durch die Tragödie der Sklaverei, mit Asien durch das Projekt von Kolumbus, einen Weg nach Indien, China und Japan zu finden.

Im Jahre 1992 müssen wir über die Aufgaben Europas nachdenken. Die erste wäre: eine Brücke zu schlagen über die Flüsse Jugoslawiens, wo gegenwärtig die Kriegsfront steht.

Und dieses Datum beleuchtet auch die komplexe Botschaft, die Europa mit den untrennbar mit ihm verknüpften Universen verbindet — vor allem die arabische Welt und das Amerika der Indianer. Es gibt uns die Gelegenheit, das wiederzufinden, was 1492 mit dem Stern von Granada und dem Schiff von Kolumbus verlorenging: das arabische Europa, das in Andalusien unterging, und die Indianerkulturen, die auf der anderen Seite des Ozeans ins Blickfeld rückten. Die Regeln des Spiels, das im Osten Europas noch 1991 gewütet hat, entstammen den Umwälzungen von 1492 im Westen des Kontinents. Jean-Pierre Faye

Der Autor ist Philosoph und Präsident der Europäischen Forschungsuniversität; den Text entnahmen wir 'Le Monde‘ vom 20.9.91. Übersetzung: Dominic Johnson