Eine Ökosteuer für den Binnenmarkt?

Die EG-Kommission plant eine Kohlendioxidabgabe — zur Förderung der maroden Atomindustrie  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Noch 462 Tage sind es bis zu dem magischen Datum, auf das das Europa der Zwölf zufiebert. Am 1. Januar 1993 sollen sich die Zollschranken öffnen. Die erwartete Folge: mehr Handel, mehr Wirtschaftswachstum, mehr Verkehr — und mehr Umweltverschmutzung. Um dieser Entwicklung vorzubeugen, möchte EG-Umweltkommissar Carlo Ripa di Meana die Verschmutzer in Zukunft stärker zur Kasse bitten. Mit einem System steuerlicher Anreize und direkter Steuern will er verhindern, daß das Binnenmarkt- Eldorado nach 1992 zu einem Fiasko für die Umwelt wird.

Erfolg ist dem obersten Umweltschützer Europas bei diesem Wettlauf dringend zu wünschen. Denn zu allem Überfluß wurde ihm noch ein weiterer Count-down überantwortet: Bis zum Jahre 2000 soll der Ausstoß des Klimagifts Kohlendioxid (CO2) EG-weit stabilisiert und danach sogar reduziert weren. Zu diesem Versprechen rangen sich die Staats- und Regierungschefs der EG vor einem Jahr durch. Damals beauftragten sie die Gemeinschaftsbehörde, einen Vorschlag zu entwickeln, wie der hehre Anspruch in die Tat umgesetzt werden kann. Heute nun wollen die EG-Kommissare endlich diskutieren, was ihr für die Umwelt zuständiger Kollege seitdem austüfteln ließ.

Im Mittelpunkt von Ripa di Meanas Maßnahmenpaket stehen Ökosteuern. Er möchte im Lauf der nächsten zehn Jahre stufenweise eine Energiesteuer von zehn Dollar pro Barrel (159 Liter) Öl einführen. Die Mitgliedsstaaten sollen zum 1. Januar 1993 drei Dollar pro Barrel auf den Ölpreis aufschlagen. Bis zum Jahre 2000 wird diese Abgabe dann jährlich um einen Dollar angehoben. Nach dem Verursacherprinzip sollen sowohl private Haushalte und AutofahrerInnen als auch die Industrie zur Kasse gebeten werden.

Der italienische Kommissar favorisiert dabei einen Steuermix: Nur zu einem Viertel will er den Energieverbrauch allgemein, aber zu drei Vierteln den CO2-Ausstoß besteuern. Energie-Kommissar Antonio Cardoso e Cunha hingegen schlägt vor, Emissionen und Verbrauch zu gleichen Teilen zu belasten. Binnenmarktkommissar Martin Bangemann wiederum gibt einer 100prozentigen CO2-Steuer den Vorzug. Er würde sowieso am liebsten ganz auf fiskalische Maßnahmen verzichten und statt dessen freiwillige Energiesparprogramme fördern, wie sie die Industrielobby lautstark propagiert.

Bangemanns Vorschlag sei voll im Interesse der Atomindustrie, kritisiert die Grüne Europaabgeordnete Hiltrud Breyer. Und auch der Kompromißvorschlag Ripa di Meanas bevorzuge noch eindeutig die Atomenergie. Sie werde dadurch gegenüber fossilen Energieträgern konkurrenzfähiger gemacht. Denn von der Kohlendioxidsteuer wäre die Atomenergie befreit. Auch der EG- Umweltexperte Christian Hey vom Institut für Regionale Studien in Freiburg hält die CO2-Steuer lediglich für ein Mittel „zur Sanierung der maroden Atomindustrien Europas, vor allem Frankreichs“. Zum Klimaschutz leiste der so geförderte Ausbau der Atomkraft keinen Beitrag. Vielmehr würde die Förderung der Großtechnologie einen Ausbau dezentraler kleiner Kraft-Wärme- Kopplungsanlagen verhindern, welche den höchsten Energieausnutzungsgrad bieten.

Das letzte Wort im Clinch zwischen Umweltschützern und Industrielobbyisten ist noch nicht gesprochen. Allerdings: Letztendlich entscheidet der EG-Ministerrat. Und in diesem erlauchten Gremium, so Hey, „gibt es starke Interessen, die Atomenergie über Ökosteuern zu fördern“.

Vor allem die französische Regierung, aber auch Umweltminister Töpfer hielten Ripa di Meanas Vorschlag für eine elegante Art, sich die Option Atomenergie offen zu halten. Schließlich würde dadurch die Atomenergie als CO2-neutrale Energieform im Kampf gegen den Treibhauseffekt wieder salonfähig.

Eurogrüne fordern verdoppelten Ölpreis

Kritisiert wird von den europäischen Umweltverbänden auch, daß Ripa di Meana lediglich eine Erhöhung von zehn Dollar vorschlägt. Einen Aufschlag um mindestens 20 Dollar, eine Verdopplung also des derzeitigen Preises von 21 Dollar, wollen Umweltschutzverbände und die Eurogrünen, „damit erneuerbare Energieträger auf dem Markt konkurrenzfähig werden“.

240 Milliarden DM — das vierfache des momentanen EG-Haushalts — kämen so jährlich zusammen, eine Menge Geld, mit dem alternative Energieformen weltweit gefördert werden könnten. Während das Kommissionskonzept vorsieht, die Einnahmen aus den Ökosteuern ohne Auflagen an die Mitgliedsländer zurückzugeben, wollen die meisten Umweltverbände zumindest einen Teil der Gelder der Umweltabteilung der EG-Behörde zuschlagen.

Damit, so Breyer, könnte die „Förderung von erneuerbaren Energieformen, Energiesparinvestitionen und den Transfer von Energiespartechnologie in die Staaten Osteuropas sowie der Dritten Welt finanziert werden“.

Denn Ökosteuern, warnt Hey, seien kein Allheilmittel. Sie wirkten nur, wenn gleichzeitig Alternativen entwickelt werden, zum Beispiel umweltverträgliche Infrastrukturen, öffentliche Verkehrsnetze oder Energiesparprogramme. Dies werde in Ripa di Meanas Vorlage zwar angesprochen, die einzelnen Projekte müßten jedoch noch konkretisiert werden. Immerhin sehe sein Konzept neben Energiesparmaßnahmen und veränderten Forschungsprioritäten auch Hilfestellungen für die Länder Osteuropas und der Dritten Welt vor.

Ökosteuer als Standortfrage?

Sollten sich die EG-Umweltminister Anfang Oktober mit dem Thema wie geplant befassen, werden allerdings andere Bedenken im Vordergrund stehen: Vor allem die südlichen Mitgliedsregierungen halten die Energiesteuer für einen Widerspruch zum Binnenmarktkonzept. Sie wollen mit den entwickelteren Ländern im Norden wirtschaftlich gleichziehen; dafür brauchen sie zumindest während einer Übergangsphase erst einmal mehr und nicht weniger Energie. Als Ausgleich sollen deshalb die nördlichen Staaten mehr Energie sparen und ihre Emissionen stärker drosseln, so daß die EG-Länder zusammen die versprochene Stabilisierung im Jahre 2000 erreichen.

Die Lobby der Chemie-, Stahl-, Aluminium-, Glas- und Keramikindustrie wiederum befürchtet die wettbewerbsverzerrenden Folgen einer einseitigen Klimasteuer. Solch eine Maßnahme könne nur weltweit erlassen werden, ließ der Europäische Rat der Chemieindustrie vor einigen Wochen in Brüssel erklären; wohlwissend, daß dies die sicherste Methode ist, eine Ökosteuer auf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben. Die Steuer könnte zur „Standortfrage Europa“ werden, warnten letzte Woche auch sieben in Holland ansässige Multis, darunter Shell. Hunderttausende von Arbeitsplätzen seien in Gefahr.

Eine Lösung hatten die Industriekapitäne jedoch gleich mitgebracht: Die von der Ökosteuer besonders stark betroffenen Industrien müßten einen Ausgleich erhalten, etwa durch Abschreibungserleichterungen für energiesparende Produktionsmethoden. Schließlich, so ihr eingängiges Argument: Durch eine Abwanderung von Unternehmen in andere Länder wäre der Erdatmosphäre auch nicht geholfen.