Tageszeitungen sind ein besonderer Stoff

■ Valeria Sass in der Galerie Ermer

Tageszeitungen haben so ihre Tücken. Als Teil der überschwappenden Medienflut suggerieren sie Informiertheit, wo sie durch unverdaubare, splitterhafte Nachrichten nur betäuben. Ereignisse und Entwicklungen auf dünnem Zeitungspapier gedruckt schweben vorbei, um schon am nächsten Tag neuen Druckseiten Platz zu machen. Trotzdem greift man immer wieder auf die Zeitungen zurück. Die Macht des gedruckten Wortes läßt denjenigen, der sich einmal auf sie eingelassen hat, nicht mehr los. Die Zeitung verheißt Ablenkung und Unterhaltung, Anregung, Erkenntnis und gibt einem das Gefühl, auf dem Laufenden zu sein. Zeitungen sind Ventil und Fokus der menschlichen Neugierde und sie dienen der ungarischen, seit 1986 in Berlin ansässigen Künstlerin Valeria Sass als Grundstock für ihre neueste Arbeit, die derzeit in der Galerie Ermer zu sehen ist.

Sass schiebt die inhaltliche Vorbelastung ihres künstlerischen Mediums beiseite und nutzt den Rücklauf eines hiesigen Pressevertriebes, um die übriggebliebenen Zeitungen in neue ästhetische Zusammenhänge zu versetzen. Der ungelesene Rest der internationalen Journale vergangener Tage wird zum bildhauerischen Material umfunktioniert, in dem weißgetünchten Galerieraum hat die Künstlerin daraus einen etwa 80cm hohen Block um ein rechteckiges Holzgestell geschichtet. Ein zweiter, ebenfalls aus gestapelten Zeitungen bestehender Quader mit den Ausmaßen jenes leer belassenen Kerns versperrt den ansonsten freien Durchgang zum Büro in der rechten hinteren Ecke der Galerie.

Sass hat ihre Installation eigens auf den spezifischen Ort ihrer Präsentation und dessen Abmessungen ausgerichtet. Die beiden Quader wirken als Teile einer dreidimensionalen Komposition, die den vorhandenen Raum zu einem neuen, eigenständigen, ästhetischen Gefüge organisiert. Die Installation erscheint wie ein begehbares abstraktes Gemälde, indem — anstelle von Linien und Flächen — Volumen zueinander in Beziehung treten.

Sass arbeitet schon seit längerem nach den künstlerischen Prinzipien einer Raum- Bildhauerei, Zeitungen allerdings verwendete sie hier zum ersten Mal. In älteren, sich mittlerweile in öffentlichen Sammlungen befindenen Installationen (in Duisburg und Budapest) strukturierte sie Räume durch dicke Holzbalken. Aber schon dort dominierte ausschließlich der ästhetische Blick. Sass' Material ist nicht Inhaltsträger, sondern Gestaltungsmittel und um die Hölzer — wie anderen Orts geschehen — als soziale Wesen zu identifizieren, bedarf es schon einer guten Portion anthroposophisch geprägter Phantasie.

Sass' Arbeiten verweigern sich über die formale Anschauung hinausgehenden Inhalten und tragen damit einen Charakter, der mit den Forderungen des Materials der neuesten Installation heftig aneinandergerät. Zeitungen sind nicht irgendein Gebrauchsgegenstand. Sie lassen sich nicht einfach auf Grund ihrer ästhetischen Qualitäten in afunktionale Zusammenhänge überführen. Ihre Signalwirkung eignet sich nicht zur fruchtbaren Transformation in die Welt der bloßen Erscheinung. Das Phänomen Tagespresse schreit geradezu nach inhaltlicher Auseinandersetzung und stellt, sobald man es im künstlerischen Umfeld verwendet, von sich aus Ansprüche, die Sass' Installation in keiner Weise einlöst. Aus dieser Diskrepanz zwischen Anforderung und Nutzung des künstlerischen Materials ergibt sich für die eigentlich reizvolle, abstrakte und eigengesetzliche Raumauffassung, die Sass' Arbeit offenbart, der schale Beigeschmack der Oberflächlichkeit. Tageszeitungen sind eben ein besonderer Stoff, und wenn man daran leckt, schmeckt's bitter. Ulrich Clewing

Bis zum 5.10., di-fr 16-19 Uhr, Knesebeckstraße 97, 1-12.