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Der weite Blick vom Plattenbau zum Badesee

■ Wenn Beamte in Hellersdorf flanieren/ CDU-Politiker reisten mit dem Omnibus durch den Stadtteil am Ostrand Berlins In der »Beton- und Schlafstadt« leben 125.000 Menschen/ »Viel schöner als hier kann man in Berlin gar nicht leben«

Hellersdorf. Politiker reisen, und Reisen bildet. Besonders im air-conditionierten Reisebus, der so seine Schwierigkeiten beim Wenden in der — nach Trabi-Maßen konstruierten, für Ortsunkundige verzwickt verwinkelten — Hellersdorfer Kastanienallee hat. »Kommen Sie mal zu uns nach Karlshorst, da ist alles viel einfacher«, stöhnt es aus dem Hintergrund. »Sie werden sehen, daß Hellersdorf ganz anders ist als Sie es sich vorstellen«, belehrt mit Heimvorteil Manfred Bittner, Stadtrat für Wirtschaft und Finanzen, seine CDU- Parteifreunde aus dem Berliner Abgeordnetenhaus, die den jüngsten Stadtbezirk im Osten, fern von Grunewald, Zehlendorf und Charlottenburg, verinnerlichen sollen. Vorbei an wehenden Reichelt-Fahnen und Aldi-Großmarkt, die »interimistisch vergebenen Standorte«, geht es an der geschlossenen Front von — im Unterschied zu Mahrzahn — »Fünf- und Sechsgeschossern«. Das Geld für die Fahrstühle war den real-sozialistischen Städteplanern ausgegangen. Überhaupt ist die Infrastruktur im neun Quadratkilometer »Neubaugebiet« (Hellersdorf: 28km2) schwach oder gar nicht entwickelt. Es fehlen kommunale Einrichtungen, Sportplätze, Schwimmbäder; es gibt kein Kino, kein Theater. Dafür: 80 Kitas, 48 Schulen und ein Rathaus, das 300 Wohnungen zwangsläufig zweckentfremdet und mit der Mieterhöhung zwei Millionen Mark im Jahr kosten wird.

Das neue entsteht auf dem ehemaligen Gelände der für Hellersdorf zu DDR-Zeiten vorgesehenen und heutigen Investruine »Polizeipräsidium mit Knast«. Bauherren und Architekten kommen aus dem »Westen«. Eine öffentliche Ausschreibung für dieses Millionen-Projekt hat es nicht gegebenen, weiß der Direktor für Stadtplanung und gebürtiger Mahlsdorfer, Rainer Zeletzki. Die erste Planungsstufe für das Rathaus hat 35 Millionen veranschlagt, die zweite landete bei 80 Millionen, und die aktuelle Kostenstudie geht von l05 Millionen Mark aus. »Wieviel Ost-Firmen arbeiten hier?« »Eine«. Richtig, daß sich Manfred Bittner als CDU- Abgeordneter fragen muß, mit welchen Kriterien solche Projekte an wen vergeben werden. Zwischenruf: »Schiebung.« Stimmt.

Was »Beton- und Schlafstadt der Nation« — 125.000 Menschen mit 28 Jahren Altersdurchschnitt, 40.000 Kinder — anbelangt, stimmt das nur teilweise. Die zu Hellersdorf gehörenden Siedlungsgebiete Kaulsdorf und Mahlsdorf mit 35.000 Einwohnern haben ein völlig anderes Klima als die Betonwüste im Norden. Eher verträumt-ländlich denn Metropole: 12.000 private Einfamilienhäuser, Grundstücke, die zwischen 1.000 bis 2.000m2 schwanken.

Die infrastrukturellen Engpässe muß — nach CDU-Vorstellungen — das große Kapital beheben, da die Kommune es aus eigener Kraft nicht schaffen würde. Die erste »renommierte« Firma hat sich aus Spanien angekündigt, die den größten Baubetrieb im Bezirk, die Elsengrund- GmbH kaufen wird. Die hat 750.000 Mark Schulden und ein Firmen-Rohbau steht eher unmotiviert herum. Alles hofft jetzt, daß die Spanier zahlen. Das freut Bittner.

Um das alte Krankenhaus, das »Sorgenkind«, steht es schlechter. Es funktioniert noch, Teile müßten aus baupolizeilicher Sicht jedoch abgerissen werden. »Es ist ja so, daß hier nicht nur 40 Jahre sondern 60 Jahre nichts gemacht wurde«, wird eingeworfen und alle, die dies hören, nicken.

»Das ist ja erstaunlich«, quittieren die ahnungslosen Abgeordneten den Blick von der Barnimkante, von der man bei schönem Wetter bis zu 80 Kilometer über ganz Berlin schauen kann. Das »Filetstück«, tolle Hanglage, Wald, das Wasserwerk, Trinkwassserzone 1, 2, 3, 3b, mehrere Kiesseen, die im Sommer wilde Badeseen sind. Urinproben gab's auch: 0,03 Prozent, weiß Bittner. Das freie Feld an der B1 werde in höheren Beamtenkreisen als »begehrtes Wohngebiet« gehandelt, denn viel schöner kann man in Berlin gar nicht wohnen. Ob die Hellersdorfer in ihren Wohnsilos das so toll finden, sei dahingestellt. André Beck

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