Das Kino ist exterritoriales Gebiet

Gespräch mit Michael Kötz, dem neuen Direktor der Mannheimer Filmwoche, die am 30.9. beginnt  ■ Von Jürgen Berger

Die 40. Mannheimer „Filmwoche“ (30.9. bis 5.10.) verändert ihr Gesicht. Am auffälligsten: Der neue Leiter der ehrwürdigen „Filmwoche“, Michael Kötz, gab ihr den Namen „Film Festival“ und strich die thematischen Nebenreihen. Er will ein Festival, daß sich auf den Wettbewerb um den „Großen Preis der Stadt Mannheim“ konzentriert; als Ergänzung hat er sich etwas Außergewöhnliches einfallen lassen — den „Schau Platz“, ein multimediales Diskussionsereignis.

taz: Für die Filmwoche ist es immer schwieriger geworden, sich gegenüber den anderen Filmfestivals zu behaupten. Sie stehen für einen Neuanfang, was wird sich ändern?

Michael Kötz: Die Filmwoche hatte ihre Hoch-Zeit Mitte der 60er bis Mitte 70er Jahre. Damals bestand die Gleichung: jung = fortschrittlich = links und ästhetisch innovativ = Minderheitenkino. Dafür war Mannheim eines der wichtigsten Festivals der Welt, von diesem Terrain hat es heute leider verloren. Hinzu kommt, daß Mannheim aus naheliegenden Gründen kein Forum mehr für den osteuropäischen Film ist.

Haben die Schwierigkeiten der Filmwoche auch damit zu tun, daß das Verfallsdatum von Filmen und Regisseuren immer kürzer wird, was die kontinuierliche Arbeit kleinerer Festivals erschwert?

Die Gründe liegen in der Tat tiefer, und zwar in der radikalen Veränderung der Strukturbedingungen in der Filmbranche. Für verkabelte Fernsehzuschauer gibt es etwa zwanzig Spielfilme pro Abend. Die Menschen sind nicht mehr neugierig darauf, auf einem Filmfestival Filme in großer Menge zu sehen. Sie sind übersättigt, und darauf gilt es zu antworten. Dazu kommt, daß die traditionelle Arbeitsteilung von Mainstream-Festivals mit großen Stars und kleineren Festivals mit gewagteren Filmen heute nicht mehr gilt. Mannheim ist also auch nicht mehr der Ort, an dem Erstlinge entdeckt werden. Früher sah man hier den ersten Kurzfilm eines Regisseurs, dann den zweiten, dann den ersten langen Film. Die Filmindustrie wollte den Debütregisseur nicht auf Anhieb, in Mannheim baute man ihn auf. Heute funktioniert das Ganze wie bei Sex, Lies and Videotapes von Steven Soderberg, der in Cannes als Debütant gleich den Hauptpreis gewann. Erfolg kann sich in atemberaubender Schnelligkeit einstellen, da die Filmbranche den Beschleunigungscharakter der Popmusik angenommen hat. Aber in zehn Jahren wird man vielleicht fragen, wo denn dieser Soderberg geblieben ist.

Die „Filmwoche“ heißt jetzt „Film Festival“ wie alle andern. Mit dem neuen Namen gehen sie nicht auf Distanz zum Trend, wie wollen sie das inhaltlich schaffen?

Daß wir das Ganze nicht mehr „Filmwoche“ nennen, hat damit zu tun, daß ein internationales Festival im Ausland nicht „International Film Week“ heißen kann. Das klingt merkwürdig. Die inhaltliche Konsequenz aus den neuen medialen Rahmenbedingungen ist vor allem, daß das Festival eine Alternative zum TV-Alltag sein muß. Im TV gibt es eine Fülle von Programmen, zwischen denen man springt, mit dem Resultat, daß der Fernsehzuschauer heute kaum noch einen Film zu Ende sieht. Wenn man nun auf einem Festival parallel in fünf Kinos Programme laufen läßt, reproduziert man damit lediglich die Struktur des Fernsehens und macht aus dem Festivalbesucher einen Fernsehzuschauer. Ich sage, das ist falsch, versuche die Maschine anzuhalten und zeige eine konzentrierte Auswahl von Filmen in einem einzigen großen Kino. Das macht kein anderes Festival, wobei ich sehr wohl weiß, daß es anstrengend werden wird, anderen Festivals diese Filme aus der Hand zu reißen.

Ist der multimediale „Schau Platz“ ebenfalls als Bremsmanöver zu verstehen?

Ich will mit dem „Schau Platz“ ein Zeichen setzen. Das geht schon mit dem Titel los. „Hunger nach Sinn“ heißt er dieses Jahr — ein Titel, der bei einen Theaterkongreß oder einer Buchmesse kaum auffallen würde, einen Filmfestival-Besucher verstört er aber, weil er sich daran gewöhnt hat, daß Film gleich Hollywood ist. Ich dagegen will dem Festivalbesucher die Möglichkeit geben, Film anders zu erfahren und habe dieses Jahr das Thema „Zeitgeist und Cinema“ gestellt, über das anhand von Krzysztof Kieslowskis Die zwei Leben der Veronika und Daniel Cohn- Bendits Debüt C'est la vie nachgedacht wird. Diese Filme konfrontiere ich mit anderen Künsten, zum Beispiel mit dem Theater und der klassischen Rede der Philosophen Klaus Theweleit und Peter Sloterdijk. Das bedeutet auch, daß ich im „Schau Platz“ die Elemente vorführe, aus denen das Kino besteht. In jedem Film wird geredet, in jedem gibt es ein Thema, in jedem gibt es Geräusche, Theatralik und Musik.

Theweleit und Sloterdijk haben sich in die Mediendiskussion eingeschaltet. Theweleit denkt in 'Lettre International‘ über die Rolle der Medien im Golfkrieg nach, Sloterdijk schreibt über den „Informationszynismus“ der Medien. Wenn sie als Redner zu einem Filmfestival kommen, erwarte ich von ihnen, daß sie das Medium „Film“ unter die Lupe nehmen.

Das erwarte ich auch, aber ich weiß nicht, was sie vortragen werden. Ich gebe ihnen genausowenig etwas vor, wie ich dem Frankfurter „Theater zwischen den Ufern“ vorgreife. Mir geht es um die Souveränität der Teile und darum, daß es Reibungen und vielleicht auch Konflikte gibt, daß sich eine „Sinnlichkeit des Zusammenhangs“ herstellt — ein Wort von Alexander Kluge, das ich sehr liebe.

Das Fernsehen wird von den Medientheoretikern derzeit als das Medium gehandelt, das dem Menschen keinen Raum mehr für Phantasien läßt. Okkupiert der Film nicht auch zunehmend die Phantasie des Zuschauers?

Ich denke schon, daß es zwischen Fernsehen und Film immer noch einen prinzipiellen Unterschied gibt. Das Fernsehen ist eine Kommunikationsmaschine, ein Netzwerk von Information und Nichtinformation, ein Strom, der läuft und läuft. Das Kino dagegen ist immer noch exterritoriales Gebiet, in das ich mich hineinbegebe.

Würden sie den Medientheoretikern zustimmen, wenn sie sagen, der moderne Mensch sei durch die simulierte Wirklichkeit der TV-Bilder deformiert?

Nein. Denn das hieße ja, er sei ohne Fernseher nicht deformiert. Das stimmt aber nicht. Schon der Mensch ohne Fernseher hat ein Problem mit der Wirklichkeit. Die Frage, wer wir sind und was sich im Moment gerade abspielt, ist so alt wie die Menschheit. Da braucht es kein Fernsehen und keinen Film. Ein Teil der Medientheoretiker geht recht protestantisch vor und meint, die Realität sei eine klare Sache, dann komme das Fernsehen und bringe alles durcheinander. Aber die Realität ist nicht klar.