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Auch Utopien werden erwachsen

■ Zum 20. Geburtstag macht Kopenhagens autonomer Freistaat Christiania den Schritt in die Legalität Vollversammlung stimmte dem umstrittenen Vertrag mit den dänischen Behörden zu/ Heute wird gefeiert — VONSTEFANMÜLLER

Marihuana-Nebel liegt über Christiania. Der süße Dunstschleier gehört zu dem autonomen Freistaat mitten in Kopenhagen wie idyllische Ruhe, streunende Hunde und — die Utopie. Wer den utopischen Schleier lüftet, ist erstmal entsetzt: Teenager ziehen sich schon mittags im Café weiche Drogen rein. Überall glühen Joints. „Ich bin wirklich stoned“, stöhnt ein dunkelhaariger Junge seiner Begleiterin zu. Ihre blonden Haare hängen in Strähnen herab, die Augen sind entzündet. Sie, kaum älter als 16, zieht ebenfalls kräftig an der Zigarette und spült mit einem Schluck Tuborg nach.

Schon vor 20 Jahren formierte sich in Kopenhagen eine „Kindermacht“, die im Freistaat Christiania ihr eigenes Haus bekam. Die Kids des liberalen Dänemark revoltierten früher als in anderen Ländern gegen ihre Eltern und schrieben in ihr Manifest: „Die Kinder sind die letzte Chance der sterbenden Menschheit. Wir sind die Zukunft — wir sind das Leben. Wir bekämpfen diese Gesellschaft, die unsere Zukunft verspielt.“

Was ist aus den Zukunftsträumen der Teenies geworden? Wurden ihre Utopien gemeinsam mit ihnen erwachsen? Christiania drückt sich 20 Jahre nach seiner Gründung um klare Antworten herum: „Die Geschichte des Freistaates wird niemals enden“, verkündet stolz die Sonderausgabe der Zeitung 'Nitten‘. Zunächst einmal ist der Stolz berechtigt, denn Christiania ist mit 1.000 BewohnerInnen (darunter 250 Kinder), zwei Dutzend Alternativbetrieben und einer Fläche von rund 20 Hektar das größte und dauerhafteste Alternativprojekt Europas, zudem noch frei vom Autoverkehr. Die Tatsache jedoch, daß die Hip-Hop-Kids keinen Bock auf Engagement mehr haben, wird in der offiziellen Darstellung gerne ignoriert.

Michael Haller, Journalist und Soziologe, schrieb bereits vor zehn Jahren: „Diesen Jugendlichen fehlt nicht nur Power, wie sie es nennen, ihnen geht auch jene befreiende Phantasie ab, die sonst Merkmal für Europas Jugendbewegungen ist.“ Kein „Drive für ganzheitliche Gegenwelten“, nur noch Alkohol und Haschisch, „von morgens um zehn bis nachts um zwölf“.

Um so erstaunlicher, daß das autonome Sozialexperiment namens Arche Christiania bisher alle Klippen haarscharf umschifft hat. Ist Anarchie also doch machbar? Gibt es ein Zusammenleben ohne Konsumstreben? Zumindest hat der Freistaat ein Geheimrezept: Das organisierte Chaos. Ein permanentes Testprogramm für die Ideen und Ideale der 68er Bewegung — mit „Schlachten, Siegen und Niederlagen“, so die Alternativzeitung 'Nitten‘.

Wer sich an den militärischen Begriffen stört, muß sich klarmachen, daß ganz Christiania früher ein Militärkomplex in Kopenhagens Künstler- und Arbeiterviertel Christianshavn war. Und offiziell heute noch dem dänischen Verteidigungsministerium gehört. Die 'Nitten‘-VerfasserInnen dachten bei ihrer Begriffswahl allerdings wohl eher an die zahlreichen Straßenschlachten mit der dänischen Polizei. „Christiania- Wirklichkeit ist ein täglicher Kampf ums Überleben, materiell wie politisch“, sagt der aus Deutschland stammende Heiner Gringmuth, „und keine Hippie-Idealwelt.“

Eine Anarcho-Idealwelt mögen viele AussteigerInnen aus europäischen Ländern in Kopenhagen gesucht haben. Sie kamen mit Wohnwagen nach Christiania oder bauten sich mit dem Material, was gerade herumlag, eigene Hütten — Prinzip Zufallsarchitektur. Die Stadt kam nach einer Kosten-Nutzen-Rechnung 1975 zu dem Schluß, daß sie durch Christiania Geld einspart. Die Nichtangepaßten, AussteigerInnen und TrinkerInnen würden den Staat teuer zu stehen kommen, wenn er sie in Sozialwohnungen, Kliniken oder gar Gefängnisse stecken müßte. Doch auch in der selbstverwalteten Gesellschaft braucht es Wohngebiets- und Arbeitsgruppen, Informationsbüros, schließlich Vollversammlungen. Per Iversen, Christiania-Mitgründer, erinnert sich mit Schaudern daran: „Die Vollversammlung ist ein Hexenkessel von ausgeflippten Personen, laut diskutierenden Alkoholikern, rasenden Hunden und schimpfenden Hundebesitzern.“

Trotz der Endlos-Diskussionen gelang es in den achtziger Jahren, im Freistaat rund 400 Arbeitsplätze zu etablieren. Vor der „Cykelvaerkstedt“ stehen chromblitzende Mountain-Bikes und mit Stahlseilen verspannte „Pedersen“-Velos. Sie sind europaweit ein Renner. Töpferei, Bäckerei, Restaurants und ein Friseur sind mit bunten Ornamenten der Hippiekultur bemalt und gehören ebenfalls zur alternativen Ökonomie. Die in Dänemark übliche Mehrwertsteuer von 18 Prozent fließt in die Christiania-Gemeinschaftskasse. Nur die Betriebe wie das Pedersen-Kollektiv, die auch außerhalb des Freistaates Geschäfte machen, bezahlen inzwischen die hohen dänischen Steuern.

Auf einem Pedersen-Rad fährt auch Ralf Köpke durch den Freistaat. Utopien werden erwachsen: „Man kann nicht 20 Jahre den gleichen Geist aufrecht erhalten.“ Ralf Köpke, 39, und seit 1977 im Freistaat, sieht die utopische Christiania- Geschichte nüchtern. Er weiß, daß die ständigen Auseinandersetzungen der rund 1.000 ChristianitterInnen mit dem dänischen Staat und ihren eigenen Problemen viel Energie gekostet haben. Gerade „Leute, die Gemeinsinn übrig haben, powern alles in Christiania rein“ — für politische Aktionen, beispielsweise gegen die geplante Öresund-Brücke, bleibt nichts mehr übrig.

Daß der Hamburger „hier hängengeblieben ist“, war Zufall. „Es gefiel mir einfach.“ Die Lebensweisheiten, Philosophien und Schattierungen, die in Christiania zusammentreffen, faszinieren ihn heute noch. Ralf schiebt eine Videocassette in seinen Rekorder: „Hände weg von Christiania“ rappen junge ChristianitterInnen zum Hip-Hop- Sound, während eine wilde Straßenschlacht zu sehen ist. „Man kann solange machen, was man will, bis jemand anders sauer wird.“ Die Autonomie drückt sich in ungeschriebenen Gesetzen aus.

Wenn etwas geschrieben und unterschrieben werden muß, steht Ärger ins Haus. Über die wichtigste Entscheidung — die Zukunft des Freistaates — scheiden sich die Geister. Um Christiania endgültig zu legalisieren, will der dänische Staat einen Nutzungsvertrag einschließlich eines Lokalplans für das Gelände abschließen, der die Rechte und Pflichten der BewohnerInnen regelt. Zu den Pflichten zählen die Renovierung der Häuser, die Zahlung von Wasser und Strom (der Staat verlangt mit vier Millionen Kronen, gut einer Million Mark, im Jahr doppelt so viel, wie bisher) und eine obligatorische Lizenz für Geschäfte und Kneipen. Außerdem sollen rund 50 angeblich unschöne Hütten und Häuser abgerissen oder umgebaut werden, damit die KopenhagenerInnen das Gelände verstärkt auch als Freizeitpark nutzen können und eine bessere Aussicht auf den Meerkanal haben. Letzte Frist für die Unterschrift: 1. Oktober, den ersten Termin im Juni ließen die ChristianitterInnen tatenlos verstreichen. Denn der Vertrag droht zur Zerreißprobe zu werden: Im Freistaat herrscht das Konsensprinzip. Nur wenn alle dafür sind, läuft die Sache. „Die Fundis sind gegen jede Zusammenarbeit mit dem Staat“, sagt Ralf Köpke. Auch eine Vollversammlung mit Hearing Ende August brachte kein Ergebnis. Bei einer — allerdings nur sehr schwach besuchten — Vollversammlung beschlossen die ChristianitterInnen nun, sich auf den Vertrag einzulassen.

Ralf, der gerade eine Dusche an sein Domizil anbaut, ist zwar nicht „nervös, daß übermorgen die Bulldozer kommen“, aber er orakelt: „Wenn der Vertrag nicht zustandekäme, besteht die Gefahr, daß Wasser und Strom abgestellt werden.“

Das kennen die ChristianitterInnen nur zu gut: Kurz nach der Besetzung des grünen Militär-Paradieses 1971 hatte die Stadt kurzerhand Strom und Wasserversorgung gekappt. Im Frühjahr 1972 erzwangen die Christiania-BewohnerInnen die erneute Freigabe. Ein Förderverein von Kopenhagener Linken und Prominenten erreichte im gleichen Jahr die ersten Verhandlungen zwischen Staat und UnterhändlerInnen des Freistaates. Ergebnis: Ein „Staatsvertrag“, der lebenswichtige Dinge wie Feuerwehr und Müllabfuhr enthielt. Ein wesentlicher Teil der Christiania-Erfolgsgeschichte: Wenn es drauf ankam, wurde der „autonome Freiraum ideenreich verteidigt“, so Michael Haller: „Mit Happenings und Kundgebungen, mit Rechtsanwälten, Aufklärungskampagnen, Parlamentsdebatten, Sit-ins und manchmal eben auch mit den Fäusten.“

Für ein mögliches Scheitern Christianias nennt Haller einen Grund: „Wenn zum Scheitern verurteilte Jugendliche den Christiania-Freiraum wie eine Medizin zur Milderung ihrer Lebensängste benötigen und ihn zur Belebung des leeren Drogenalltags mit ihrer grenzenlosen Langeweile verbraucht haben.“

Der Haschhandel in der „Pusherstreet“ treibt besondere Blüten — nicht zur Freude aller ChristianitterInnen: Ein Typ mit kurzgeschorenen Haaren hat eins auf die Fresse gekriegt. Sein Gesicht ist blutverschmiert, er stützt sich auf sein Fahrrad und verläßt den Freistaat. Währenddessen strecken die DealerInnen den TouristInnen ihre Ware entgegen — ähnlich, wie auf Frankfurts Konstablerwache. Stundenlange Haschrazzien der Polizei sind keine Seltenheit. Kopenhagens bürgerliche Presse berichtet mit Freude darüber. Und selbst in der Wochenzeitung 'Christianias Ugespejl‘ beschreibt Mel aus der Kneipe „Woodstock“, wie einem 17jährigen Besucher ohne Grund eine Knarre vorgehalten wurde. „Ängstlich rannte der Junge weg, während alle lachten.“ Da muß ein Dealer schon mal mit blankem Hintern im Fluß verschwinden, weil ihm die Ordnungshüter auf den Fersen sind. Da ist jede Menge Geld im Spiel, sagt Ole Lykke, Christianias Pressesprecher. [Gibt's in diesem Kaff eigentlich eine einzige zitierenswerte Frau? Oder sind Frauen sogar in diesem „Aussteiger- Paradies“ ausschließlich für die auch sonst üblichen drei Ks zuständig? d.s‘in] Daß die harten Drogen und Junkies 79 nach einer einmonatigen „Junk-Blockade“ rausgeschmissen wurden, zeugt von Durchsetzungsvermögen der BewohnerInnen. Aber den Haschmarkt rauswerfen, der viele Leute versorgt, die, so Ole Lykke, „für eine weltweite Legalisierung von Hasch eintreten“? „Das war früher ein Tabuthema“, erzählt Ralf Köpke. Aber es könne nicht Christianias Aufgabe sein, ganz Kopenhagen mit Hasch zu versorgen. Er plädiert für eine Diskussion über diesen Markt, von dem Christiania „keinen Nutzen, aber nur Schwierigkeiten hat“.

Um die Schwierigkeiten erst mal zu vergessen, feiert Christiania ab heute mit Zirkus, Theater, Musik, Ausstellung, Filmfestival und Diskussionscafé den 20.Geburtstag des Freistaates. „Ganz Dänemark ist eingeladen“, schreibt die Christiania-Postille 'Nitten‘. Bei Ralf Köpke laufen die Organisationsfäden zusammen: Sein Haus im Freistaat ist mit Telefax, Funktelefon und Satellitenfernsehen ausgestattet. Dagegen mutet es geradezu grotesk an, daß sich einige HausbesitzerInnen mit einer Pilzart herumschlagen müssen, die Holz und Mauerwerk befällt. Unorthodoxe Ideen auch hier: „Bekämpft die Schwämme“ (Bekaemp swampen) nannten die ChristianitterInnen im Winter ein Benefizkonzert.

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