: Das Massaker auf der Schafweide
Der NS-Prozeß wegen Beihilfe an der Ermordung von Sinti und Roma in Kassel geht in die Endphase ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt
Kassel (taz) — Der Prozeß gegen den Ex-Polizisten Michael Scheftner, der im Mai 1942 Beihilfe bei der Erschießung von dreißig Sinti und Roma in der Ukraine geleistet haben soll, geht heute vor dem Landgericht Kassel in den fünften Verhandlungstag. Zahlreiche Sinti und Roma, unter ihnen der Zentralratsvorsitzende Romani Rose, verfolgen angespannt diesen ersten großen NS-Prozeß, der wegen Beihilfe zum Völkermord an Angehörigen ihres Volkes in der Bundesrepublik stattfindet. Rund eine halbe Million Sinti und Roma, so Rose, sind während der Besetzung halb Europas durch die Deutschen ermordet worden.
Nach Aussagen von drei vom Gericht nach Kassel geladenen Polizistenkameraden von Scheftner, habe der damals 24jährige Rußlanddeutsche die Roma und Sinti des Dorfes zusammentreiben lassen und deren Bewachung bei der Erschießung organisiert. Vor Gericht bestritt Scheftner vehement, aktiv an der Ermordung der „Zigeuner“ (Richter Gemmer) beteiligt gewesen zu sein. Er habe „hinter dem Lastwagen gestanden“, als ein SS-Offizier mit seinem Karabiner die Roma und Sinti in Sechsergruppen in einem offenen Massengrab erschoß. Die anwesenden knapp zwanzig anderen Polizisten hätten dagegen einen Halbkreis um die Grube gebildet, um die Männer, Frauen und Kinder, die sich nackt ausziehen und in ihr Grab steigen mußten, an der Flucht zu hindern. Auch habe er sich geweigert, für die SS den Dolmetscher zu spielen — „weil ich mich an dieser Sache nicht beteiligen wollte“.
Scheftner hat in seinem Leben insgesamt nur drei Jahre lang Schulen besucht — in verschiedenen Regionen der Sowjetunion. Geboren wurde er 27. März 1918 in Jamburg, in der Region Altai/Sibiren, als Sohn deutscher Eltern, deren Vorfahren nach Rußland ausgewandert waren. Als auch in Jamburg 1929 die Landwirtschaft von den Sowjets kolchosisiert wurde, wollte die Familie nach Kanada auswandern. Doch die ausreisewilligen Scheftners wurden in Moskau festgenommen, in einen Viehwaggon verfrachtet und in die Region Altai zurücktransportiert. In eisiger Kälte, so Scheftner vor Gericht, hätten „die Russen“ die damals noch sechsköpfige Familie nachts auf den Bahnhöfen stehen lassen. Zurück in Jamburg sei der Vater von der Kolchoseleitung schikaniert worden.
Deshalb flüchteten die Scheftners 1930 erneut — zunächst in ein Dorf in der Ukrainie, wo der Vater das Vieh hütete und die Kinder auf der Kolchose arbeiten mußten, und danach in den Kaukasus. Dort blieb die Familie bis 1932, ging dann zurück in die Ukraine und im Frühjahr 1933 ins Donez-Gebiet. Scheftner: „Wir Kinder mußten betteln gehen.“ Die Verhältnisse wurden so drückend, daß die Familie beschloß, erneut in die Ukraine überzusiedeln. Dort wurde der Vater dann als „Regimegegner“ verhaftet, wieder freigelassen und aus dem „deutschen Dorf“ Bielefeld nach dem nur von Russen bewohnten Dorf Siwaschi verbracht.
Der inzwischen 23jährige Scheftner arbeitet als Traktorfahrer auf der Kolchose „Pariser Kommune“ in Siwaschi, als deutsche Truppen 1941 die Sowjetunion überfallen und die Ukraine besetzen. Der zweisprachige Scheftner wurde zum Wehrmachtsdolmetscher ernannt: „Ich hab' das nicht gerne gemacht, weil die Deutschen haben den Russen das letzte Schwein abgenommen.“ Nach den Soldaten rückten SS-Einheiten in das Gebiet um Siwaschi ein. Ein SS- Sonderführer Brunecker, der in der Region eine Polizeieinheit aufbaute, rekrutierte die jungen Männer — und Scheftner wurde Polizist.
Am Vorabend des Massakers auf der Schafweide schob Schefter nach eigenen Angaben Wache vor der Kommandatur. Davon, daß seine Polizistenkollegen die Roma und Sinti des Ortes zusammentrieben, will er „nichts gehört“ haben. Erst nach Mitternacht, bei der „Postenkontrolle“, habe ihm ein Kollege gesagt, daß alle Polizisten „raus zur Schafweide“ müßten — „weil die Zigeuner evakuiert werden sollten“. Scheftner: „Als ich dort ankam, waren die anderen Polizisten, die Zigeuner und zwei SS-Männer schon da.“ Der SS-Offizier, so Scheftner, habe mit Vornamen Karl geheißen, und der andere sei sein Fahrer gewesen. Nur dieser „Karl“ habe dann die Menschen erschossen, sagt Scheftner. Von dem SS-Mann „Karl“, dessen Nachname unbekannt ist, fehlt bis heute jede Spur.
Die drei noch lebenden russischen Polizisten aus der Ukraine und von der Krim, die am Dienstag in Kassel aussagten, haben allerdings andere Versionen von der Tatbeteiligung Scheftners zu Protokoll gegeben als der Angeklagte in der vergangenen Woche. Scheftner sei stellvertretender Leiter der Polizei in Siwaschi gewesen und habe den Befehl zum Ergreifen und Sammeln der Roma und Sinti erteilt und darüber hinaus an der Bewachung der Opfer „aktiv teilgenommen“. Nach der Aussage eines der beteiligten Ex-Polizisten, die dem Gericht schriftlich vorliegt, soll Scheftner bei der Aktion sogar selbst die Pistole in die Hand genommen haben.
Mit Tränen in den Augen berichteten die drei alten Männer aus der Sowjetunion am Dienstag Details von dem Massaker auf der Schafweide. So mußte der Zeuge Lojkow für den SS-Mann zwei kleine Kinder festhalten. Lojkow: „Der nahm mir dann ein Kind ab, hielt es vor sich und erschoß es. Dann warf er es in die Grube. Dann kam das zweite dran...“ Lojkow verließ nach diesem grauenerregenden Vorfall die Hinrichtungsstätte — „ich bin danach einfach weggegangen, immer geradeaus“.
Der Umstand, daß zumindest einer der als Zeugen geladenen Ex-Polizisten, Pavel Lojko (71), nach 1945 in der Sowjetunion als Kollaborateur mit der deutschen Wehrmacht und der SS zu einer langen Arbeitsstrafe verurteilt worden war — „und weil man die Vernehmungsmethoden des KGB kennt“ —, entwerte allerdings die Aussagen der Zeugen, sagt Scheftners Anwalt Rosenkranz. „Kein Mensch kann hier nachvollziehen, wie die Aussagen der sogenannten Kollaborateure, die bereits in der Sowjetunion zum Fall Scheftner vernommen wurden, zustande kamen.“
Rechtsanwalt Rosenkranz forderte am Dienstag eine Unterbrechung des Prozesses, weil er „das Prozeßklima“ durch die anwesenden Sinti und Roma „vergiftet“ sah — und weil er von einem Roma „persönlich bedroht“ worden sei. Zuvor schon wollte Rosenkranz mit dem Vorwurf der Befangenheit die deutsche Dolmetscherin aus dem Verfahren drängen, weil der Verdacht bestünde, „daß sie KGB-Agentin ist“. Beide Anträge wurden vom Gericht zurückgewiesen.
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