„Niemand leugnet den tiefen Einschnitt...“

Die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern will den Forschungsmitarbeitern des Instituts für Diabetes in Karlsburg kündigen/ Wissenschaftsrat empfiehlt, nur bestimmte Forschungsbereiche an der Universität in Greifswald weiterzuführen  ■ Von Bärbel Petersen

An Vorsehung glaubte in Karlsburg bis zum 12. September 1991 niemand. Einen Tag später indes dürften wohl einige abergläubisch geworden sein: Es war Freitag, der 13. — und 146 Mitarbeiter des Instituts für Diabetes „Gerhard Katsch“ erhielten den Bescheid, daß ihr Arbeitsverhältnis bis zum 31. Dezember 1991 beendet sein wird. Absender: Kultusministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern, dem das Institut seit Dezember 1990 untersteht. Letzte Woche sperrten die Karlsburger kurzerhand die B109, um gegen eine Auflösung des Instituts zu protestieren.

Mit Koppeldraht und Milchkanne

Wer mit dem Auto von Anklam nach Greifswald fährt, muß zwangsläufig durch das vorpommersche Dorf Karlsburg. Vor allem Zuckerkranken in der ehemaligen DDR ist dieser Ort ein Begriff. Seit 1947 wird hier der Diabetes behandelt und erforscht. Annemarie Mohnike erinnert sich: Mit ihrem Mann und der dreijährigen Tochter kamen sie per Lastwagen nach Karlsburg und richteten dort in einem Schloß ein Diabetikerheim ein. Bis zum April 1945 lebte hier die Familie von Bismarck- Bohlen. Die Fenster waren zum Teil mit Brettern vernagelt, als Nägel dienten abgeschlagene Stücke vom Koppeldraht. Wasser mußte in einer Milchkanne vom Dorfbrunnen herbeigeschafft werden.

Vom Provisorium zum Krankenhaus: Ende Mai 1947 konnten die ersten 15 Diabetiker in sieben Zimmern behandelt werden. Heute gibt es drei Kliniken mit insgesamt 225 Betten. Bisher wurden hier etwa 36.000 Patienten gezählt, davon rund 6.200 Kinder. Annemarie Mohnike ist stolz, mit diesem Institut ein „einzigartiges in Europa“ geschaffen zu haben. Einzigartig wohl deshalb, weil der Diabetes in Karlsburg nicht nur erforscht, sondern auch mit neuesten Methoden behandelt wird.

„Kündigung ist ein formaler Akt“

Mecklenburg-Vorpommerns Landesregierung aber will nun mit der Einzigartigkeit Schluß machen. Der Forschungbereich soll an die Medizinische Fakultät der Ernst-Moritz- Arndt-Universität Greifswald angegliedert und der Klinikbereich unter anderem durch „pauschale Fördermittel“ wirtschaftlich sichergestellt werden. Diese Entscheidung begründet das Kultusministerium mit einer Empfehlung des Wissenschaftsrates.

Der Wissenschaftsrat — seit Oktober 1989 in den neuen Bundesländern unterwegs, um die dortigen Forschungseinrichtungen zu begutachten — hat Anfang Juli eine Einschätzung über das Institut für Diabetes „Gerhard Katsch“, das zu DDR-Zeiten dem Gesundheitsministerium unterstand, veröffentlicht. Darin heißt es: „Es wird empfohlen, daß das Diabetes-Forschungsinstitut mit ausgewählten Forschungsschwerpunkten, wie sie in der Immunchemie zu finden sind, erhalten bleibt und in einer personell stark reduzierten Form in die Universität Greifswald integriert wird. (...) Unter Nutzung der in Karlsburg vorhandenen Laborkapazitäten und der Klinikbetten für klinische Forschung kann hier ein Schwerpunkt für Endokrinologie (Lehre von der Funktion der Drüsen und Hormone; d. Red.) und Stoffwechselforschung entwickelt werden, der nach erfolgreicher Umstrukturierung in etwa drei bis fünf Jahren im Rahmen der Blauen Liste gefördert werden könnte.“

Fakt ist: Das Kultusministerium will sich nicht länger direkt für das Institut zuständig fühlen und hat deshalb erst einmal allen Mitarbeitern des Forschungsbereichs vorsorglich zum 31. Dezember 1991 gekündigt. Dazu das Kultusministerium: „Niemand leugnet, daß die Aufteilung des bisherigen Institutes in einen Forschungsteil in die Universität und einen Klinikteil in neuer Trägerschaft einen tiefen Einschnitt bedeutet.“ Und deshalb scheint für sie „die Kündigung der Mitarbeiter des Forschungsteils für 75 Mitarbeiter ein formaler Akt, da nach Auswahl der Wissenschaftler und ihrer Forschungsthemen zum 1. Januar 1992 neue Arbeitsverträge mit der Universität abgeschlossen werden“.

Die Universität Greifswald hat gestern angekündigt, das Karlsburger Institut der Medizinischen Fakultät zu übernehmen. Institutsdirektor Uwe Fischer ist zwar über diese Nachricht erfreut — denn damit wäre der Weg für einen Erhalt des Instituts geebnet —, aber die Personalfrage macht ihm „schon zu schaffen“. Offen ist nämlich nach wie vor die Anzahl der Mitarbeiter, die von der Universität Greifswald eingestellt werden. Für das Kultusministerium steht jedenfalls schon fest: „Integration von 45 Wissenschaftlern des Forschungsbereiches in der Medizinischen Fakultät der Ernst-Moritz- Arndt-Universität Greifswald. (...) Zusätzlich werden rund 30 Wissenschaftler befristete Arbeitsverträge erhalten und über Drittmittel finanziert.“ 14 Mitarbeiter sollen in den Vorruhestand geschickt, der technische Bereich privatisiert werden (keine Wissenschaftler). Fazit des Schweriner Ministeriums: „Es erfolgt eine Freisetzung von ca. sechs Prozent der Mitarbeiter.“

Von Abwicklung ist keine Rede

Trotzdem bleibt die Frage, warum das Kultusministerium allen Instituts-Mitarbeitern erst kündigt, um dann einen Teil wieder einzustellen. Auch das Datum der Kündigung ist fragwürdig: „Institutsabwicklungen“ in den neuen Bundesländern müssen laut Einigungsvertrag bis zum 31. Dezember 1990 angekündigt oder eingeleitet sein. Das ist jedoch für das Karlsburger Diabetes- Institut nicht erfolgt, im Gegenteil. Es wurde vielmehr am 19. Dezember 1990 durch die Regierung von Mecklenburg-Vorpommern die Übernahme beschlossen.

Licht in das Dunkel sollte am Mittwoch eine Personalversammlung mit dem Staatssekretär Thomas de Maizière vom Kultusministerium bringen. Er bestätigte die von der Landesregierung geplanten Entlassungen. Und er bestätigte auch, daß weniger Leute neu eingestellt als entlassen werden.