Die Erdachse quietschen hören

Reinhold Messner in der Antarktis  ■ Von Wilhelm Schmid

Warum machte Messner sich auf diesen mühsamen Weg? Man ist konfrontiert mit einem ganzen Geflecht von Gründen. Da ist zunächst der ökologische Impetus der Reise, der darin bestand, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diesen bedrohten Kontinent zu lenken. Vergangenen November trafen sich die 24 Vollmitgliedstaaten des vor 30 Jahren geschlossenen Antarktis-Vertrages, und erstmals steht ein Umweltabkommen zum Schutz des Kontinents zur Verhandlung an. Eigentlich sollten zunächst Ansprüche auf die Ausbeutung von Öl und anderen Bodenschätzen festgeschrieben werden, aber Australien und Frankreich hatten überraschend erklärt, daß sie die Idee eines Schutzgebietes gutheißen und daher das Rohstoffabkommen nicht unterzeichnen würden; die Bundesrepublik zeigte sich gleichfalls dafür offen.

Aber Messner, der diese Tour zusammen mit dem Norddeutschen Arved Fuchs unternahm, ist ehrlich genug, die politischen Gründe nicht als alleiniges Motiv in den Vordergrund zu stellen. Massive persönliche Gründe treiben ihn nun, so daß mancher Psychologe schon den Wunsch verspürte, in seiner Kindheit zu fahnden und die deutlichen Spuren irgendeines Komplexes auszumachen. Als ob es nicht genügte, von der unendlichen Weite zu träumen; von der Reise in die weiße Wüste! Es erscheint interessanter, Messner zu folgen, seine Vorgehensweise zu studieren. Seinem Buch kann man entnehmen, wie er die gemachten Erfahrungen zusammenstellt, ordnet und ins rechte Licht rückt; wie sich die Sprache mit dem Beginn des Unternehmens nach innen kehrt und in einem Tagebuch manifestiert; wie Messner schließlich seine ganze Existenz überdenkt, in eine neue Perspektive bringt und präsentiert, während er die Ästhetik der Antarktis preist, ihre Wildheit, ihre Schönheit. Es ist nicht neu, daß Selbst- und Welterkenntnis so eng miteinander verknüpft sind.

Messner weiß, was eine Dramaturgie ist; er zieht ihre Register. Das Ereignis, das im Zentrum stehen soll, muß lange hinausgezögert werden; es muß lange als Abwesendes anwesend sein. Das Transversale des Ereignisses (transversal im doppelten Sinne: Durchquerung dieses Kontinents; Durchkreuzung des herrschenden Diskurses über diesen Kontinent), muß in Bezug gesetzt werden zur Statik der Ausgangssituation. So kommt Messner in den Blick als einer, der sich eingerichtet hat und dennoch wieder aufbricht; einer, der von denen, die seßhaft sind, mißtrauisch beäugt wird — ein moderner Nomade. Was ihn interessiert, ist „das Unterwegssein an sich“.

Am Horiziont erscheint das bevorstehende Ereignis, die Antarktis- Expedition wird vorbereitet, das heißt inszeniert: Übungen sind zu absolvieren, die den Leib, das Fühlen und Denken auf die neuen Erfahrungen vorbereiten; technische Tests sind anzustellen. Messner nächtigt im Freien, absolviert ein hartes Lauftraining, wird vertraut mit der übermächtigen Angst vor dem selbstgewählten Unternehmen. Eine „Taktik“ ist zu entwerfen. Das Expeditionslager ist zu bestücken. Das ist, was man die esoterische, technische Seite der Inszenierung nennen kann. Aber die Ästhetik der Existenz wendet sich vor allem nach außen, hin zu den anderen. Die Vertreter der Öffentlichkeit werden also hinzugezogen, die über die Reise ins Eis berichten werden: Das ist die exoterische, mediale Seite der Inszenierung.

Das konzipierte, konstruierte, künstlich hergestellte Ereignis wird noch unterstrichen durch die Künstlichkeit des Ortes, an dem es stattfand. Zwar sagt Messner, der Südpol selbst sei nie sein Ziel gewesen; vielmehr nur „eine Art Gipfel im Rahmen dieser Überquerung. Mehr aber nicht.“ Aber er weiß selbst sehr gut, daß kein Mensch sich für seine Tour interessiert hätte, wenn er zurückgekommen wäre nur mit der Aussage, er sei in der Antarktis gewesen. Antarktis, was ist das? Er mußte am Südpol gewesen sein. Nur weil er dort gewesen ist, hört man ihm zu. Es ist die Stelle, an der Amundsen 1911 als erster Mensch ankam — und die er erst rechnerisch bestimmen mußte. Er brauchte dafür drei Tage. Einer seiner Begleiter war damals überzeugt, er könne schon „die Erdachse quietschen hören“.

Das weiße Abenteuer war also von vornherein geprägt von der Schwierigkeit, an einem Ort anzukommen, den es nicht wirklich gibt. Aber darauf kommt es nicht an. Entscheidend war für Messner, sich in einem vollkommen andersartigen, fremdartigen Raum zu bewegen, und das aus gutem Grund: Die Formung des Selbst geschieht in diesem Raum des absolut anderen, in dem das Selbst sich erfährt. Die Technik des Umgangs mit sich selbst ist da neu zu erlernen; eine ganze Selbsttechnologie ist zu entfalten. Anderswo, im anderen erfährt das Subjekt sich selbst, und jede Kultur hält daher spezifische Räume dafür bereit. Die moderne und postmoderne Kultur beginnt diese Erfahrungsräume unter veränderten Bedingungen neu zu definieren, und Messner leistet bewußt seinen Beitrag dazu: Sein Vorhaben ist es, der absoluten Stille und unberührten Weite wieder einen Ort im Gedächtnis des Menschen zu verschaffen: einen weißen Raum.

Man kann aber die Erfahrung des anderen auch dazu benutzen, die Fundamente der Kultur besser zu erkennen, der wir selbst zugehören: Messner hält der europäischen Welt von außen den Spiegel vor. Von Ferne erscheint ihm „diese Kunstwelt als Hölle, die mich fahrig, unzufrieden, müde machte“. Indem er sich an die Grenzen dieser Kultur begibt und sie überschreitet, relativiert er den Anspruch ihrer Wirklichkeit und ihrer „Vernunft“, die für die einzig mögliche gehalten worden war. „Nein, diese Welt war nicht die wahre Welt.“ Es ist die Erfahrung und erst recht die Grenzerfahrung, die das selbst auf neue Weise gestaltet und prägt: „Nicht ein weiches Bett oder eine gute Mahlzeit bleiben mir in Erinnerung. Die Tage und Wochen, die ich in der Wildnis bei Kälte und Hunger zugebracht hatte, waren es, die mich geprägt haben. Danach sehnte ich mich, wie sehr ich mich auch davor fürchtete.“

Das Ereignis, willentlich produziert an einem Ort, der nicht existiert, könnte zu einem Bezugspunkt im öffentlichen Bewußtsein werden, zu einem Orientierungspunkt in der weißen Landschaft, die keiner kennt, die aber alle angeht. Die Performance am Südpol transformiert die Situation und rückt ins Feld der Sichtbarkeit, was zuvor nicht wahrgenommen worden war. Die Spur zweier Menschen, die sich über dreitausend Kilometer durchs Eis zieht und schon verweht ist, bezeichnet eine einzige Erfahrung: nicht die des Besitzergreifens, sondern genau umgekehrt, wie Messner sagt: „Die Antarktis nahm von mir Besitz.“

Reinhold Messner: Antarktis. Himmel und Hölle zugleich. Piper Verlag, 320 Seiten mit 40 Farb- und 100 Schwarzweißabbildungen, 58 DM