Dichter in Babylon

Salman Rushdies Roman hat seine eigene Geschichte vorweggenommen  ■ Von Ludger Lütkehaus

Thut nichts, der Jude wird verbrannt“: Das Urteil, das in LessingsNathan der christliche Patriarch von Jerusalem dreimal gnadenlos wiederholt, könnte auch der Satz jener islamischen Patriarchen sein, die ihren Aufruf zum bezahlten Mord an Salman Rushdie wieder bekräftigt haben. Nichts hat es dem Schriftsteller geholfen, daß er sich inzwischen als gläubiger Moslem bekannte. Nichts, daß er seinen Satanischen Versen eine andere, islamfreundliche Auslegung zu geben versuchte. Nichts, daß er zum Zeichen der tätigen Reue jede Taschenbuchausgabe und alle weiteren Übersetzungen seines Romans verbot. Die öffentliche Selbstdemütigung blieb fruchtlos: So leicht besänftigt man heiligen Patriarchenzorn nicht. Ja, die Erneuerung des Mordaufrufes wurde mit einer Erhöhung des Geldes verbunden. Und derzeit fallen nach den Prinzipien schriftstellerischer Sippenhaft weltweit Killerkommandos schon über die Übersetzer her: Die Konfrontation zwischen dem Herrschaftsanspruch dogmatischer Wahrheitsbesitzer und säkularer Gedanken-, Rede- und Kunstfreiheit geht weiter.

Geht man unter diesem Eindruck freilich auf die Satanischen Verse selbst zurück, so zeigt sich, wie sehr eben dieses Thema schon den Roman selber bestimmt. Fern davon, der neuen, frommen Lesart des Autors zu gehorchen, scheint der Roman die Auseinandersetzungen um ihn auf verblüffende Weise vorweggenommen zu haben. Es lohnt sich, es in diesem Licht noch einmal zu lesen.

Prinzipiell hat Rushdie bei seinem Umdeutungsversuch nicht unplausibel argumentiert. Er hat sich dagegen verwahrt, einen Roman mit einem Glaubens- oder auch Unglaubensbekenntnis seines Autors zu verwechseln. Und er hat zu Recht betont, daß es sich bei den Partien, die am meisten Anstoß erregt haben, um Träume einer der beiden Hauptfiguren, des Schauspielers Gibril Farishta, handle. Es geht also um potenzierte Fiktion, um Phantasien von Phantasiefiguren.

Die Formel von Rushdie indes, daß es in den Satanischen Versen um die „Konflikte zwischen materieller und spiritueller Welt“ gehe, ist etwas zu schlicht, um diesem vielschichtigen Riesenwerk auch nur annähernd gerecht zu werden. Und der Versuch, die Träume von Gibril Farishta als „Bilder der Desintegration“, als Strafen und Belohnungen zu verstehen, seine Geschichte insgesamt als Parabel dafür, „wie ein Mensch durch den Verlust seines Glaubens zerstört werden kann“ — das tut dem Roman eben jene Gewalt an, die seine Gegner dem Autor anzutun versuchen. Materiell/spirituell, Glaube/Unglaube; Lohn/Strafe: diese Kategorien fallen auf just jenes Denken in dualistischen Gegensätzen zurück, das in den Satanischen Versen selber auf allen Ebenen — inhaltlich, stilistisch, strukturell — aufgelöst, zerschrieben, zerspielt wird.

Die Handlung basiert zwar auf Figurenpaaren; doch die verheißen nichts weniger als eindeutige Gegensätze. Das Buch ist ein Buch der Vermischungen und Verwandlungen, das (mit einer frappanten Parallele zu Christoph RansmayrsLetzter Welt) nicht umsonst den Metamorphosen- Dichter Ovid nachdrücklich zitiert.

Die beiden unheldischen Helden: Gibril Farishta (Gabriel Engel), Spezialist für vielköpfige und vielgöttrige theologische Stories; eine wandelnde „Uno der Götter“; die personifizierte Utopie der religiösen Grenzüberschreitung, und das ebenfalls vielstimmige Sprechgenie Saladin Chamcha — sie stammen aus der Welt der Simulationen. Und jeder ihrer Versuche, Eindeutigkeit zu gewinnen, scheitert kläglich oder katastrophal.

Gewiß, Gibrils Romanbiographie nährt sich aus der Nähe und Ferne zur moslemischen Tradition. Mal ist er der Atheist, der sich deswegen alsbald strafwürdig fühlt; mal empfindet er die weiblichen Lockungen der westlichen Welt als Versuchungen zur Gottlosigkeit, die er seinerseits strafen will. Am Schluß aber kommt es zur Katastrophe, weil er der aggressiven Eifersucht erliegt: gleichsam dem Monotheismus des Ich. Der „gottverdammte Racheengel Gottes“ ist es, der Mord, Totschlag und Selbstmord entfesselt.

Saladin Chamcha wiederum, das mephistophelische Gegenstück des zwielichtigen Erzengels, erliegt auf seine vielstimmige Weise der Versuchung des Bösen. Doch was ist das Böse? Ein schwarzes, satanisches Reich, das dem Guten unzweideutig entgegensteht? Oder eine Möglichkeit, die in allen liegt und sich gegebenenfalls selbst kreiert? Saladins Geschichte zeigt das zweite. Wenn der Roman sich überhaupt für etwas eindeutig entscheidet, dann dafür, daß selbst der Gegensatz zwischen Gut und Böse, Gott und Teufel, wahr und falsch, jaja und neinnein vieldeutig ist. Der und das eine kann man nur werden, wenn man das andere in sich ausschließt und als Fremdes, als Nicht-Ich sich gegenüberstellt. Monotheismus jeder Sorte ist mit dem Dualismus verbunden.

Dementsprechend vieldeutig ist es um die religiösen Gegensätze des Romans bestellt. „Frage: Was ist das Gegenteil von Glaube? Nicht Unglaube. Zu endgültig, gewiß, hermetisch. Selbst eine Art Glaube. Zweifel.“ Glaubensverluste gibt es nur, wie Saladin in der Auseinandersetzung mit seinem „Abba“ erfährt, wenn etwas zuvor zu einem höchsten Wesen geworden ist. Da sind, auf höchster Ebene, die Konkurrenzen der Götter, an ihrer Spitze jener Al Lah, der der einzige zu sein beansprucht und für Mahound, den Propheten, auch wird. Aus der polytheistischen Mitgift Jahilias (Mekkas) steht dem patriarchalen Monopolisten aber die matriarchale Liebes- und Rachegöttin Al Lat entgegen: schon im Namen näher, als es den frommen Herrschaftsansprüchen recht sein kann. Wer aber diese Mehr-, ja, Vieldeutigkeiten nicht verleugnet, für den kann es keine „Unterwerfung“ geben. „Einen Willen haben, heißt widersprechen; sich nicht unterwerfen; anderer Meinung sein.“

In der Welt der Propheten und ihrer „stocksteifen“ kompromißlosen Ideen hat solche Nichtunterwerfung natürlich nichts zu suchen. „Die, die den Versen des Teufels lauschen, (...) werden am Ende selbst zum Teufel gehen.“ Wie wenig Selbstvertrauen mußte doch dieser Gott haben, (...) der mit Terror herrschte und (...) alle Dissidenten in sein loderndes Sibirien verbannte, in die Gulag-Infernos der Hölle.“

Dementsprechend reich ist in den Satanischen Versen die Skala der Terroristen des Wahren, Guten und Unschönen besetzt. Da ist im vierten Buch des Romans etwa jener exilierte Imam, dessen Porträt den Ayatollah Chomeini zu dem Eindruck kommen ließ, er sei hier gemeint. Zu Recht. Er will die Pluralität der Geschichte auslöschen. Er verbietet den Wein, aus dem sich Lust und Phantasie nähren. Er trinkt selber Wasser. Und er predigt Blut. „Verbrennt die Bücher und vertraut dem BUCH; zerreißt die Papiere und hört das WORT.“

Scheinbar auf der Gegenseite Aischa, die Prophetin aus dem Volke, die sich mit den Menschen ihres Dorfes aufmacht zu den Heiligen Stätten. Doch wo sie dem unehelichen Teufelskind der unreinen Liebe begegnet, da will auch ihr Gott, einträchtig vereint mit dem der Imams, das Menschenopfer: „Von uns wird alles verlangt werden“ — nur nicht Menschenliebe und Toleranz. Da sind die Flugzeugentführer, an ihrer Spitze eine terroristische Todesgöttin, deren nackter Leib statt mit der Vielgestalt nährender Brüste mit Granaten bestückt ist. Das Opfer ihrer ersten Exekution: ein Sikh-Überläufer, der seine Identität verraten hat.

Da ist schließlich nebst diversen anderen Fundamentalisten moslemischer und hinduistischer Provenienz, die allesamt ihre ungläubigen Sataniker als Gegenbild gefunden haben, die Auseinandersetzung zwischen dem Propheten Mahound und Baal, dem Dichter. Ob er nun noch Al Iat anhängt oder nach ihrer (vorläufigen) Niederlage in souveräner Glaubenslosigkeit endet: Er unterwirft sich nicht; Unterwerfung ist ihm eine „Idee der Furchtsamkeit“. Und so ereilt ihn auf Befehl des sonst durchaus großzügigeren Propheten, der selbst dem falschen Souffleur etlicher Koran-Verse Gnade gewährt, ein gnadenloses Strafgericht. Baal: „Huren und Dichter, Mahound. Das sind die Leute, denen du nicht vergeben kannst.“ Mahound erwiderte: „Dichter und Huren. Ich sehe da keinen Unterschied.“

Auf seine Weise: recht hat auch er. Dichter — wie vielgesichtige und vielstimmige Schauspieler — sind gewissermaßen Huren, weil sie sich an viele hingeben; weil sie nicht an Monopole, an einköpfige Götter, an eindeutige Gegensätze und schon gar nicht an die Wohltaten der Unterwerfung glauben. Und ein Dichter, der so vielgestaltig, so mäandernd, so undurchsichtig, skeptisch und auch schlitzohrig schreibt wie Salman Rushdie, der als Erbe von drei Kulturen: der moslemischen, der indischen und der westlichen, die personifizierte Vielfalt ist — der ist in diesem Sinne der Dichter der Dichter, die Oberhure des vielsprachigen Babylon. Alles Dogmatische; der Kult des Autochthonen; jede geistige Blut-und-Boden-Ideologie muß mit diesem Dichter der Dichter unvereinbar sein. Der Schlüsselsatz der Satanischen Verse lautet: „So war es, so war es nicht...“