Schöner leben

■ Ende der Sommerlüge

Gern wird diese wöchentliche Spielwiese der Intelligenz mit der Behauptung eröffnet, die Menschheit zerfalle in zwei Teile usf. Betrachten wir heute folgende Teilmengen: Die einen wissen mit der Sicherheit eines Zen-Bogenschützen, daß nach der Umstellung auf „Winterzeit“ alles eine Stunde später, die Umstellnacht länger und gestern um acht früher als morgen um acht ist. Die anderen verstehen den relativierenden Umgang mit der Zeit nach zwölf Jahren noch immer nicht und werden ihn nie verstehen: Ist es morgens später als dunkel? Wenn die Uhren einmal vor-, einmal zurückgestellt werden, sind da gar zwei Stunden im Spiel? Darf, wer länger schläft, auch später aufstehen?

Letztere haben mit einer Selbstblockade zu kämpfen, die sich auch in der strukturellen Unfähigkeit niederschlägt, eine Digitaluhr zu verstellen. Dahinter steckt ein zutiefst humaner Rest von Widerstand, das Aufbäumen gegen die ubiquitäre Verfügbarkeit des Menschen im allgemeinen und seiner Zeit im besonderen. Selten nämlich tritt Herrschaft heute derart arrogant und keck auf: Die Knechtung unseres Zeitempfindens — klar ablesbar an Kühen und Kindern — ist rein symbolisch gemeint; volkswirtschaftlich sinnvoll ist sie nicht. Um wieviel einfacher ist es, einen Winterstundenplan zu fotokopieren, als bundesweit eine halbe Milliarde Uhren, Kühe und Kinder umzustellen?

Tragisch ist die Situation derer, die sich entschließen, zu widerstehen: Wer jetzt seine Uhr nicht verstellt, lebt verkehrt! Denn nur Winterzeit ist Echtzeit. Die Sommerlüge geht Sonntagnacht zu Ende. Ablesbar ist dies an den Sonnenuhren, diesen Wundern an Authentizität und Wahrheit. Alle Sonnenuhren gehen im Sommer „verkehrt“! Ein überaus trauriges Bild und einzigartiger Ausdruck der Misere selber. Burkhard Straßmann