Eine keineswegs gewaltfreie Aktion

Günter Krämers neue Mozart-Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin  ■ Von Frieder Reininghaus

Willy Brandt erinnerte bei der Premierenfeier an das Jahr 1961: Am 13. August begann der Mauerbau, am 24. September der Spielbetrieb der Deutschen Oper. Sie sollte, zumal mit der Verbarrikadierung der Demarkationslinie der Zugang zum Ostteil der Stadt abgeschnitten war, den Westberlinern einen wesentlichen Sektor repräsentativer Kultur eröffnen und mit der Staatsoper der DDR in Konkurrenz treten. Insgesamt dürfte der Vorposten westlicher Denk- und Lebensform in den zurückliegenden drei Jahrzehnten die ihm politisch zugedachte Funktion erfüllt haben. Die Deutsche Oper an der Bismarckstraße trug wesentlich dazu bei, den Bewohnern der Inselstadt das Bewußtsein zu vermitteln, wenigstens in kultureller Hinsicht weiterhin in einer Metropole zu leben. Der Spielplan wurde so konzipiert, daß die überwiegend konservativen Publikumsschichten über die Jahre hinweg im wenig gastlichen Neubau an der großen Ost-West-Achse der Stadt heimisch wurden; immer wieder freilich wurde jenes Maß an Neuem eingesprengt, das fürs Mithalten in einer modernen urbanen Kulturlandschaft unerläßlich ist. Der als Generalintendant wenig glückliche Cellist Siegfried Palm brachte immerhin Mauricio Kagels provokative „Lieder-Oper“ Aus Deutschland an der Deutschen Oper Berlin zur Uraufführung. Götz Friedrich, sein Nachfolger, pflegte nicht nur seinen Regiestil, der in den achtziger Jahren gewisse Erschöpfungssymptome zeigte, sondern verpflichtete mit Achim Freyer, Herbert Wernicke, Hans Neuenfels, John Dew und Günter Krämer Regisseure, die für eine erstaunliche Vielfalt der Inszenierungen, der Sichtweisen, Bebilderungen und Aktualisierungen sorgten; er sorgte für eine Reihe ganz neuer Stücke — wie die (gründlich mißratene) Weltuntergangsfabel Los Alamos von Marc Neikrug, wie das (verräterisch seichte) Verratene Meer von Hans-Werner Henze, wie den (bestens in den Zeitgeist sich fügenden) Ödipus von Wolfgang Rihm. Die Charlottenburger Oper, anders als das traditionsreiche Haus unter den Linden, durfte in den achtziger Jahren zu den weltweit bedeutenden Spielstätten des Musiktheaters gezählt werden.

So schwang ein fast trunkener Stolz mit bei der Jubiläumsinszenierung (beim feuchtfröhlichen Ausklang mag er hingenommen werden). Man ließ den Ausstatter Andreas Reinhardt allzusehr ins Volle greifen, wozu die Zauberflöte ja verführt: da sie so vieles brachte, um vielen etwas zu bringen. Der Purismus und die Strenge, die Günter Krämers erste Inszenierungen an der Deutschen Oper auszeichneten, seine Katja Kabanowa und die Lady Macbeth, traten als Grundlinie hin und wieder zu Tage, waren aber überformt von der massiven Wucht greller Bilder, in denen sich für die Schaulust allerhand angerührt und angerichtet fand: Vom Fabeltier bis zu den Alltagsanzügen westdeutscher Gegenwart, von der Damenfrisurmode der sechziger Jahre bis zu Anspielungen auf das Menschenbild, wie es uns von den Geldscheinen verschwundener osteuropäischer Regierungen anblickte, von Anleihen bei amerikanischer Zigarettenreklame bis zum ironischen Zitat aus biederer deutscher Stadttheatertradition, von altägyptischen Motiven und einer Rousseau-Adaption bis zu jener zwanghaft „glücklichen“ Landkommune (die die safrangelb gefärbten Zeiten des „großen Sprungs nach vorn“ in China assoziieren läßt) — all das wurde zu einem Bilderreigen aufgeboten, von dem immer wieder suggestive Kraft ausgeht, der freilich insgesamt nicht konsistent wirkt (und das vielleicht auch gar nicht werden konnte, weil die Zauberföte nun einmal ein „Machwerk“ ist). An einigen Stellen konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß da — womöglich unterm Druck des Jubiläums auf die Künstlerpsyche — die Bildsprache ins Lallen kam.

Freilich ging die Produktion erkennbar von einem dramaturgischen Konzept aus: vom geschärften Kampf der Geschlechter. Während der ersten Fugatos der Ouvertüre flaniert eine uniformierte Menge auf der Bühne; den bedeutungsschweren drei Es-Dur-Akkorden zu, sortieren sich die Leute in Männlein und Weiblein — die Geschlechter stehen sich schließlich antagonistisch gegenüber. Ein Messer fällt, fährt in den Bühnenboden. Es ist der Dolch der nächtlichen Königin. Einer der Männer zieht die Waffe heraus, sieht sie sich genau an und schlägt sie aufs neue in die Bretter, auf denen der Konflikt ausgetragen zu werden verspricht: die Herausforderung ist angenommen. Damit das Spiel seinen Lauf nehmen kann, müssen die drei Damen bekanntlich das „gräßliche Ungeheuer“ ausschalten. Krämers Inszenierung läßt die drei Schönen gleichzeitig ihre handlichen Pistolen ziehen und die Schlange mit dem Hirschgeweih durch placierte Schüsse niederstrecken. Aus dem Tierkörper kommen viele junge Frauen und assistieren den singenden drei Damen im Folgenden. Die Königin der Nacht, ansonsten gern in stolzen Höhen gezeigt, muß bei Krämer ihr Becken immer in Bodennähe halten, als sei das der Weiber Natur. Die Tochter Pamina ist ihr mehr Instrument der Machtpolitik als Gegenstand der Mutterliebe: Das Bildnis, so wunderschön, das dem Prinzen Tamino zunächst geschenkt ward, wird von ihr mit dem allgegenwärtigen Dolch zerfetzt.

Günter Krämer rückte mit dem klar gezeichneten Kampf der Geschlechter auch das Verhältnis der sternflammenden Königin zu der von Tamino begehrten Tochter in neues Licht: Auch sie soll ja geprüft werden und entscheidet sich, vor die Wahl gestellt, den Priesterkönig Sarastro zu ermorden oder die (Ziele ihrer) Mutter zu verraten, für die gewaltfreie Lösung, welche die „Zernichtung“ des weiblich dominierten Nachtreichs nach sich zieht (eine keineswegs gewaltfreie Aktion). Pamina löst sich von der Mutter ab und bringt sich in die Männerwelt und deren Regelwerk ein. All das wird schließlich in Krämers Inszenierung klar, auch wenn in den Tableaus zu Beginn des zweiten Akts die Fäden in den Bildgemengen verlorenzugehen drohen. Die Buntheit und das Gelockerte mögen freilich dazu dienen, daß diese ganze Zauberflöte nun auch nicht wieder zu ernst interpretiert und genommen würde. Doch, wie gesagt, das Zwingende des Zugriffs geht über dem Willen zur Zerstreuung verloren.

Die Mozartsche Jubiläumsmusik wurde von Heinrich Hollreiser aus dem Geist vergangener Tage heraufbeschworen: sehr bedächtig die Tempi, ohne alle Maniriertheit die klaren Anweisungen für Orchester und Sänger. Die konnten aussingen und brillieren — von Amanda Halgrimson (Königin der Nacht) und Eva Johansson (Pamina) an abwärts. Peter Seiffert — bestens als Tamino, hinreichend markant und angenehm anschmiegsam mit seiner Stimme. Die partiellen „Mißfallenskundgebungen für den als deutscher Pädagoge ausstaffierten Cornelius Hauptmann, den Sonnenkönig Sarastro in seinem zwangskollektivierten Landwirtschaftssonnenstaat, diese Buhs waren ganz unberechtigt. Die Leistung des Sängerensembles war fast homogen und weit über dem Durchschnitt. Die Inszenierung aber liegt irgendwo in der Mitte — zwischen der Aufbereitung für Salzburg, die Karl-Ernst und Ursula Herrmann aus der bewußt wahrgenommenen Stadttheatertradition heraus besorgten, und der Übersetzung in moderne Problem- und Kunstfelder, wie sie Robert Wilson an der Opéra Bastille ins Werk setzte. Der Mittelweg aber, meinte Arnold Schönberg, sei der einzige, der nicht nach Rom führt. Nach Berlin und in Berlin hat er dieses Mal geführt. Vielleicht ging es unter den Zwängen des doppelten Jubiläumsdrucks nicht anders.