ALTERNATIVER MASOCHISMUS Von Philippe André

Wir stets verspannten Großstadtmenschen kennen und hassen es alle: Locker wollen wir uns aufs Rad schwingen oder einfach im Vorbeigehen das störende Stück Papier vom Boden aufheben; rmpff macht es, und wir stehen da als hätte sich soeben etwas von uns gelöst. Schmerz ergießt sich in den steifen Körper und krallt sich fest. Gramgebeugt suchen wir den Arzt auf und haben als Berliner Alternative natürlich unsere linken, fortschrittlichen „Gemeinschaftspraxen“ im Kiez, die uns an ebenso fortschrittliche, linke Röntgeninstitute, Massagezentren etc. überweisen, in denen man auf uns eingeht, uns nicht mit einem frostigen „Der Nächste bittä!“ verunsichert, sondern mit einem warm gehauchten „Philippe?“ eher prämental entspannt. Solcherart vorbereitet gelangen wir dann gemeinsam zu der Erkenntnis, daß unser Körper wohl eher „nicht so sehr in Schuß“ sei, mithin „gewisse Haltungsschäden“ dominieren. Nun beginnt die aktive Therapiephase: Arzt, Apotheke, Röntgen, Arzt, Apotheke, Massage, Arzt... Der eigentliche Heilerfolg soll offenbar durch die zu den einzelnen Stationen zurückgehumpelte Gesamtstrecke erzielt werden. Wild und unbeugsam übrigens wuchs im Röntgeninstitut mein Wunsch, schon in Kürze wieder topfit sein zu wollen. Die junge Radiologin hatte eine ebenso diskrete wie teuflische Therapie angewandt: Über den gesamten Zeitraum der Prozedur maß sie mich mit diesem mitleidigen „Um Gotteswillen, und der lebt noch?“-Blick. Auch die „Massage“ ist hier ein Schlüsselerlebnis: „Spürst Du schon einen Schmerz“, will die Therapeutin wissen. „Ja“, antworte ich beflissen. „Und jehetzt?“ „Mehr“, presse ich wahrheitsgetreu hervor. „Wie fühlt er sich denn nun an“, fragt sie besorgt, als ich sie mit einem schrillen „vieeel mehr“ brüsk unterbreche. Behutsam legt sie mein schlimmes Bein auf die Pritsche zurück. Ein wohliges Gefühl der Erleichterung durchflutet meinen Körper. Die kann was! Verunsichert verlasse ich die Praxis. Im Rigoletto- Schritt steuere ich nun die Apotheke an und erhalte wortlos eine Salbe. Irgendwie schaffe ich es nach Hause und trage sie dort sofort auf. Nach zwei Minuten brennen die Reste meiner Wirbelsäule lichterloh. Abrupt fliehe ich mein Lazarett und hüpfe, den Mund zu einem laut- und endlosen Schrei geformt, durch die Wohnung. Mein Sohn will auch „Astronauten trainieren für Olympia“ spielen. Mit wilden Gesten und unmißverständlicher Mimik mache ich ihm im Vorbeigleiten klar, daß dies hier bitterer Ernst ist. Ich rette mich ins Bad und verbarrikadiere mich dort. „Komm raus, Quasimodo“, nervt mein Kleiner in spielerischem Zorn, während ich fieberhaft nach einem Ausweg suche. „Heilung durch Leugnung“ schießt es mir plötzlich durch den Kopf. „Du stornierst alle Heil-Termine und gehst einfach wieder arbeiten!“ Freudentränen rinnen mir die Wangen hinab, als ich mit der Parlamentärsfahne vorneweg mein Refugium verlasse. Schluß mit dem alternativen Masochismus und hin zum autogenen Träning!