Einheitslohn — eine längst geschlachtete heilige Kuh

In selbstverwalteten Betrieben liegen die Löhne um so höher, je weniger differenziert sie sind/ Eine Kundschaft mit sozialdemokratischem Charakter In Branchen mit harter Konkurrenz geht's schon lange nicht mehr ohne „Marktzulage“, um die Leistungsträger in den Alternativbetrieben zu halten  ■ Von Dietmar Bartz

„Einheitslohn? Das ist eine gegessene Geschichte.“ Schon lange sei sie nicht mehr auf Tagungen und Seminaren diskutiert worden, hat Dieter Poschen von der Selbstverwaltungszeitung 'Contraste‘ beobachtet. „Das liegt nicht daran, daß es den Einheitslohn nicht mehr gäbe. Die einen haben ihn, die anderen nicht. Er ist kein Streitpunkt mehr.“

„Da ist die taz ein Unikum“

„Die Gehaltsdifferenzierung kommt, das ist allen Beteiligten klar“, sagt Jochen Mende, der die Ökobank bei Kreditanträgen von selbstverwalteten Betrieben Süd- und Mittelhessens berät. Für Harald Deerberg in Bremen, Geschäftsführer des Verbundes der Fairsicherungsläden, ist „die Tendenz schon weg vom Einheitslohn“. Und selbst eine Branche, die überwiegend von kleinen und kleinsten Kollektiven bestimmt wird, dürfte sich da noch wandeln: „Auch im Fahrradbereich wird die Lohndifferenzierung kommen“, vermutet die Berlinerin Ulrike Saase, Geschäftsführerin des Verbundes der Selbstverwalteten Fahrradbetriebe. Resümiert schließlich Maria Icking vom Düsseldorfer Regionalbüro des Netzes für Selbstverwaltung und Selbstorganisation, eines bundesweiten Zusammenschlusses von 600 Betrieben: „Den Einheitslohn gibt es bei größeren Betrieben kaum noch. Da ist die taz ein Unikum.“

Einzigartig sind allerdings beinahe ohnehin größere selbstverwaltete Betriebe. Läßt man die mit Staatsknete finanzierten Ausbildungsprojekte und etwa die Taxi-Genossenschaften „mit individuellem Marktzutritt ihrer Mitglieder“ — so der Betriebsberater Heinz Bollweg — einmal unberücksichtigt, bleibt kaum ein Dutzend Firmen übrig, in dem mehr als zwanzig SelbstverwalterInnen unmittelbar mit dem Markt konfrontiert sind — ganz überwiegend Produktions- und einige wenige Handelsbetriebe. Daß sich die Selbstverwaltung, betriebswirtschaftlich gesehen, als Kostenfaktor niederschlägt, ist eine banalere Erkenntnis als die Frage, ab welcher Schwelle ihre tradierten Formen den Bestand des Projektes ernsthaft gefährden.

Wenn sich die Belegschaft ein „Gefühl von Marktunabhängigkeit“ bewahren wolle, blieben ihr drei Möglichkeiten, sieht Bollweg:

—auf ein marktadäquates Einkommen zu verzichten, um mit diesem Solidarbeitrag nach innen die Kosten der Ineffizienz zu finanzieren,

—von der Monopolisierung ihres Marktsegmentes (als einzige alternative Tageszeitung, als einzige selbstverwaltete Umweltschutzpapierfabrik) zu profitieren, ein Phänomen, das für praktisch alle Großbetriebe zutrifft,

—oder die internen Strukturen zum Programm zu erheben und dafür von der Kundschaft höhere Preise zu verlangen.

Die Probleme, die sich aus diesen drei — oftmals vermischten — Möglichkeiten ergeben, sind ganz unterschiedlich. Beim Solidarbeitrag zugunsten des Betriebes sorgt in erster Linie der Arbeitsmarkt für Konkurrenz. Die Monopolisierung des Marktes funktioniert nur (noch) begrenzt, weil (inzwischen) vergleichbare Produkte oder Dienstleistungen auch von „normalen“ Unternehmen angeboten werden. Bei der Kundschaft selbstverwalter Großbetriebe aber, sofern sie nicht selbst wiederum selbstverwaltet arbeitet, hat Bollweg eine „typisch sozialdemokratische Haltung“ ausgemacht: Sie führe durch das Konsumieren von Alternativprodukten eine Art Leben aus zweiter Hand: „Es ist der Kauf einer Utopie. Da wird etwas eingefordert, zu dem man selbst keine Kraft hat.“

Dabei stellt sich schnell die Frage, was die Utopie ist, die von den Käufern eingefordert wird. „Der Begriff der Selbstverwaltung stellt sich sehr viel facettenreicher dar als noch vor ein paar Jahren“, sieht Ökobank- Vorstandsmitglied Oliver Förster, der schon von Berufs wegen zum Blick über den Tellerrand gezwungen ist. Einheitslohn? Hierarchiefreies Arbeiten? Der Betrieb im Besitz der gesamten Belegschaft? Reinformen gibt es, zeigt eine Umfrage, so gut wie überhaupt nicht mehr. In Hessen wird schon an einem extra Gütesiegel gebastelt, um, weil die Mischformen so vielfältig sind, die Spreu wenigstens einigermaßen vom Weizen zu trennen. Der Verbund der Fairsicherungsläden hat in aller Ehrlichkeit das Prädikat „selbstverwaltet“ aus seinem Namen gestrichen und steckt in einer Satzungsdiskussion, die als niedrigstes Aufnahmekriterium „demokratische Unternehmensstrukturen“ verlangt. Von seinen derzeit 18 Mitgliedern zahlen gerade noch drei den Einheitslohn, dem Verbundler Deerberg zufolge könnte etwa ein Drittel als selbstverwaltet bezeichnet werden. Ein weiteres Drittel besteht aus Läden, die so klein sind, daß Chef und Belegschaft praktisch identisch sind.

Nun sind Fairsicherungsläden in der Regel Kleinbetriebe. Mit dem Wachstum aber beginnt recht schnell die Differenzierung auch der Arbeitsverhältnisse: Die Diskussion darum bricht spätestens in dem Moment aus, in dem die erste Buchhaltungsfachkraft eingestellt wird. Zwar gehen die Aussagen darüber, ob die ersten Angestellten eines selbstverwalteten Betriebes weniger oder mehr als ihre Arbeitgeber verdienen, weit auseinander. Für Maria Icking vom „Netz“ werden die Büroleute — ganz überwiegend Frauen — von Anfang an schlechter bezahlt; Ulrike Saade weiß hingegen, daß in den Fahrradläden die Bürokraft oftmals mehr verdient hat als der Rest der Belegschaft. Ingesamt jedenfalls hat sich dieser Prozeß sowohl beschleunigt als auch verbreitert. Im Unterschied zu früher aber, weiß Jochen Mende von den hessischen Projekten, ist der Wunsch nach klaren Verhältnissen zum „ausformulierten Bedürfnis“ geworden.

In sehr vielen Betrieben arbeiten inzwischen Beschäftigte, die zwar auf die gute Atmosphäre nicht verzichten wollen, aber auch nur eine klar definierte — und begrenzte — Verantwortung für einen Teilbereich übernehmen wollen. Dies macht die Lohndifferenzierung einsichtig.

Dabei ist die Betriebsgröße allein noch nicht ausschlaggebend. „Weit wichtiger als die Zahl der Beschäftigten ist ihr Alter und das politische Umfeld“, berichtet Jochen Mende aus der Arbeit mit den hessischen Projekten. Die Szene wird älter, der Selbstverwaltung fehlt der Nachwuchs: Wer vor 10 oder 15 Jahren ein Projekt mitbegründet hat, damals 30 oder 40 war und inzwischen gesicherte finanzielle Verhältnisse im Betrieb hat, hat jetzt andere Anforderungen an effizientes Arbeiten, langfristige Investitionsplanungen und auch die persönliche Zukunftssicherung als 20jährige EinsteigerInnen. Als entscheidende Schwelle gilt vielfach wiederum das Geld: Um sich am Gesellschaftskapital einer bereits existierenden GmbH zu beteiligen, ist erfahrungsgemäß eine fünfstellige Summe erforderlich.

Welche Mischformen bei der Entlohnung und der innerbetrieblichen Hierarchie, aber auch bei der Teilprivatisierung möglich sind, zeigt eine kleine Umschau, bei der Kindergeld außer acht gelassen ist.

Bei der REA in München, in der rund vierzig Leute mit der Projektierung und dem Bau von Anlagen für das Energie- und Abfallrecycling beschäftigt sind, wird ein Einheitslohn von 4.000 DM brutto bezahlt. Fast alle Beschäftigten sind auch GesellschafterInnen. Erspart die Höhe des Einheitslohns die Debatte um seine Differenzierung? „Das könnte schon sein“, sagt REA-Verwaltungsfrau Jofine Hogeweg. Das Problem liegt allerdings anderswo. Die Selbstverwaltungsstruktur beruht weitgehend auf der Gruppenbasis und hat starke Ähnlichkeit mit dem Projektmanagement. Der relativ hohe Lohn setzt bei der Arbeitsteilung etwa in Ingenieur- und handwerkliche Arbeit vor allem den Handwerksbereich unter Druck. Hierarchieprobleme gibt es Hogeweg zufolge aber nicht, weil bei der REA ein klares Vertragsprinzip herrscht: Wer für was verantwortlich ist, wird schriftlich fixiert.

Die Comuna Metallbau in Herford, Herstellerin von kleinen gasgetriebenen Blockheizkraftwerken, hat zwar 20 Beschäftigte, am Kapital beteiligt sind aber nur vier. „Wir sind offen für zusätzliche Gesellschafter“, sagt der Angestelle Herbert Even, räumt aber ein, daß die „Durchlässigkeit“ vom Arbeitnehmer- zum Gesellschafterstatus bei 20.000 DM Einstiegskapital recht hoch ist. Bezahlt wird übertariflich, das Arbeitsentgelt ist bei einem Verhältnis von 1 (Mindest-) zu 1,1 (Höchstlohn) wenig differenziert.

Stärker ist dies bei der Prolit in Gießen der Fall, die mit ihren 29 Beschäftigten Buchhandlungen mit Verlagsprodukten beliefert. 1:1,5 ist hier das Verhältnis, die Lohndifferenzierung kommt durch Betriebsangehörigkeits- und Verantwortungszulagen zustande. Zudem wartet Prolit mit einer ganz frisch eingeführte Novität auf: Um SpezialistInnen für die EDV-Abteilung zu finden, gibt es jetzt eine „Marktzulage“. Jochen Mende, der selbst bei Prolit arbeitet, begründet sie kurz und bündig: „Weil kein Weg daran vorbeiführt.“

Bei ungefähr 1:2 ist die Ökobank, wie wohl kein selbstverwalteter Betrieb im engeren Sinne, angelangt. Bei der Fahrradmanufaktur in Bremen mit ihren 60 Beschäftigten sind es heftig umstrittene 1:3. Allerdings muß hier berücksichtigt werden, daß in der Fahrradbranche das Ausgangsniveau äußerst niedrig ist, was wiederum der Grund dafür ist, daß die vielen Fahrradläden, die der Manufaktur ihre Produkte abnehmen, in der Regel noch Einheitslohn zahlen: Es gibt nicht viel umzuverteilen.

Wo liegt die Grenze des Engagements?

Das Resümee ist: In großen Selbstverwaltungsbetrieben liegen die Löhne um so höher, je weniger differenziert sie sind. Differenzierte Löhne — für die es inzwischen die ausgefeiltesten Modelle gibt — zwingen sowohl die Belegschaft insgesamt als auch ihre einzelnen Mitglieder dazu, sich über das Maß ihres Engagements klarer zu werden — es ist kein Fall bekannt, in dem sich dies als abträglich für den Betrieb herausgestellt hat. Einen Grund, den grundsätzlichen Abschied vom Einheitslohn verwerflich zu finden, gibt es faktisch nicht mehr. Wer von außerhalb eines Betriebes moralisch oder sogar politisch gegen dessen Lohndifferenzierung argumentiert und nicht zugleich die eigene materielle Basis offenlegt, muß sich den Vorwurf der Heuchelei gefallen lassen. Oder er muß — in Heinz Bollwegs Worten — damit leben, eines sozialdemokratischen Charakters geziehen zu werden. Das aber wollen die Kritiker vermutlich am allerwenigsten. Oder?