Broadway Baby in der Kantstraße

■ Deutschsprachige Erstaufführung von Stephen Sondheims »Follies« im Theater des Westens

Ein legendäres Musical-Theater soll abgerissen werden und einem Parkhaus weichen; für den Abend vor Abrißbeginn lädt der Direktor seine ehemaligen Stars zur Abschiedsparty ein. Ziemlich alt und schrullig sind sie geworden; einige tingeln immer noch, andere haben die Branche gewechselt, sind Versicherungsvertreter oder Kosmetikunternehmerinnen geworden. Man tauscht Sentimentalitäten aus, giftet sich in alter Gewohnheit ein wenig an, wärmt alte Liebschaften halbherzig auf — Schluß. Wer aus dieser jämmerlich dünnen Story amüsantes Entertainment machen will, braucht vor allem alte Schauspielerinnen, die bei aller Lust am Klischee, am komödiantischen Typisieren doch authentisch spielen können — und natürlich die die beträchtlichen gesanglichen Fähigkeiten mitbringen, die Stephen Sondheims tückische Songs verlangen. Solche alten Damen sind womöglich auf deutschem Boden schwer zu finden — Regisseur Helmut Baumann hat sie jedenfalls nicht engagieren können. Nur zwei der zum Teil hochberühmten Protagonistinnen sind ihren Rollen gewachsen: Brigitte Mira spielt ihren leicht dümmlichen Mutterwitz aus, setzt trocken und präzise Pointen und gleicht schauspielerisch sogar noch ihre schweren stimmlichen Defizite aus. (Bedauerlicherweise ist so einer der wenige Ohrwürmer des Stücks, »Broadway, Baby«, eher zu ahnen als zu hören.) Eartha Kitt spielt einfach Eartha Kitt, mit sehr viel Witz und Selbstironie. Eine Frau, die sich bewegen kann, die es sichtlich genießt, auf der Bühne zu sein und die immer noch fabelhaft singt — es war schon tröstlich, daß da selbst das Permierenpublikum im Theater des Westens — wie immer in allen Farben des Entsetzens gekleidet und nach zweifelhaften Duftwässern miefend — plötzlich echtes Gefühl zeigte, sogar von Herzen tobte und schrie. Alle übrigen ProtagonistInnen sind unbedeutend bis grauenhaft — mit Abstand am gräßlichsten Margot Hielscher, die unverfroren Desinteresse und Unterspannung zur Schau stellt; die Kessler-Zwillinge, die sich als ergreifend schlechte Schauspielerinnen erweisen und deren immer schon abstoßendes Gehopse nun noch zusätzlich altersschwach geworden ist; Daniela Ziegler, eine unglaubliche Heuchlerin und Schmierantin, der nicht ein Wort zu glauben ist oder Renate Holm, deren peinliches Chargieren körperliches Unwohlsein erzeugt und die als Sängerin ein schmerzliches Schlotter-Vibrato bevorzugt. Die Männer spielen teils anständig und unauffällig, teils rührend unbeholfen, Cliff-Barnes-mäßig (Fritz Hille) — singen immerhin können sie alle.

Das Orchester des Hauses wird unter Rolf Kühns Leitung ganz passabel mit Sondheims schwieriger Musik fertig; Breaks und Rhythmuswechsel funktionieren, manchmal hätte man sich mehr Abstimmung in der Lautstärke gewünscht.

Unbegriflich ist mir, daß Helmut Baumann als Übersetzer Dr. Michael Kunze angeheuert hat; der ohnehin schon etwas schwache Text wird durch peinliche Reime und krampfhaft-originelle Wortwahl noch dämlicher. Wie gut Sondheims Songtexte immerhin klingen können, merkt man leider nur, wenn Eartha Kitt ihr »I'm still here« in der Originalsprache singen darf.

Mathias Fischer-Dieskaus Bühnenbild ist allein den Besuch der Show wert: Die unvermeidliche Revuetreppe ist in Segmente teilbar und drehbar; dazu durch Lichteffekte in Zehntelsekunden vielfältig zu verändern. Auf die Hinterbühne lassen sich in mehreren Schichten Dias projizieren — Großstadtbilder und Einsamkeitsmetaphern, ein Loveland- Schriftzug und Riesen-Obsttörtchen, wenn vorn das Liebesquartett gesungen wird — Fischer-Dieskau macht wirklich jedes erdenkliche Faß auf. Klaus Nothnagel