Lügen haben kurze Beine

■ Die MarathonläuferInnen sind die wahren Helden unserer Zeit/ Von vielen verlacht, kehrt die letzte Volksbewegung zu den Wurzeln des Seins zurück

Geben Sie es ruhig zu: Auch Sie haben gestern wieder über die Marathonis gelacht, die mit schweißgetränkten Trikots an Ihnen vorüberhüstelten. Vorbei sind die Zeiten, als die Außenstehenden den LäuferInnen auf ihrer 42,195 Kilometer langen (Tor-)tour noch reinen Herzens zujubelten. Mit steigenden Teilnehmerzahlen und dem Umzug der Aktiven aus den Wäldern in die Herzen unserer Metropolen Ende der 70er Jahre gerieten die Ausdauerfetischisten ins Kreuzfeuer der Kritik. Sie seien letzlich nur arme Teufel, die sich ihre Haxen auf schwergängigen Asphaltpisten ruinierten, angetrieben lediglich von der schmerztötenden Wirkung der Endorphine, einer morphiumartigen Droge aus dem körpereigenen Hirnanbau.

Die Welt des Marathon, so der Vorwurf der Nichtstuer, die ihren Kreislauf mit bloßem Zigarettendrehen trimmen, sei der letzte Planet, auf dem sich die verhinderten Treibtäter, Lonesome Riders und vereinsamten Weltflüchtlinge noch austoben könnten. Daß ab und an einer darunter ist, der das schnöde Diesseits nicht nur geistig, sondern gar körperlich verläßt, paßt nur zu gut in die Denk-Schablone der Anti- Jogger.

Doch das Meer der Läuferinnen und Läufer propagiert unverdrossen die Philosophie einer neuen postmodernen Welt, die abschwört vom professionellen Dilettantismus unserer Zeitgeistepoche und der rücksichtslosen Ausbeutung knapper Ressourcen.

Denn die Leute in Laufschuhen haben mehr Grips im Hirn als Schalck-Golodkowski Politiker in der Hand. Dies ergab eine sensationelle Untersuchung eines bundesdeutschen Psychologen, der den Kilometerfressern ein überdurchschnittlich gut gelüftetes Oberstübchen attestierte. Merke also: Gelaufene Wegstrecke verhält sich proportional zur Erhöhung des IQ. Unerhört viel Verstand benötigt die größte real existierende Volksbewegung der Welt allemal, muß sie doch für den immobilen Rest der Menschheit mitrennen, pardon: mitdenken.

Wer befreite gestern die Stadt vom Schwefeldioxyd der Autos, wovon ökologische Splittergruppen bislang nicht einmal zu träumen wagten? Wer kommt dem urkommunistischen Ideal des Christentums näher als unserer Lungenartisten, die niemanden nach Hautfarbe, Nationalität oder Marke der Laufschuhe beurteilen — und dabei noch von der Polizei geschützt werden?

Ja, der Marathon ist der moderne Weg nach Golgatha. »Laßt uns ablegen alle Trägheit, und laßt uns laufen mit Geduld«, donnerten bereits gut unterrichtete Bibel-Kreise im vielzitierten Hebräer-Brief — auf daß die Welt besser werde! Deshalb, in Gottes Namen, schüttet fürderhin nicht länger Hohn und Spott über jene, die Marathon laufen. Sie tun es auch für dich und dich ... und natürlich ganz besonders für dich!

Schauen Sie in den Spiegel, und Sie werden sehen, ob sie gestern falsch Zeugnis abgelegt haben über die selbstlosen Jogging-Jünger. Denn Lügen haben kurze Beine. Jürgen Schulz

Frauen: 1. Renata Kokowska (Polen) 2:27:35, 2. Kim Jones (USA) 2:27:50, 3. Tuija Toivonen (Finnland) 2:28:49; Männer: Steve Brace (Großbritannien) 2:10:57 Stunden; 2. Mark Plaatjes (USA) 2:11:01, 3. Slawomir Gurny (Polen) 2:11:45; Rollstuhl/Frauen: 1. Barbara Maier (Ravensburg) 1:52:20; Rollstuhl/Männer: 1. Heinz Frei (Schweiz) 1:27:53 (Weltbestleistung).