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Leninstraße

Eine Magistrale ins Nichts  ■ Von Gabriele Goettle

Nahe der Innenstadt, nur ein paar Straßen vom Karl-Marx-Platz entfernt, liegt zwischen dem Friedenspark und der orthopädischen Klinik die Russische Gedächtniskirche, umgeben von einem weißen Mäuerchen. Man erbaute sie 1913, zur Erinnerung an jene 22.000 russischen Soldaten, die hundert Jahre zuvor ihr Leben verloren in der Völkerschlacht, hier um Leipzig herum. Eigentlich wollten wir zu dieser Kirche, in der Hoffnung, dort einen zum russisch-orthodoxen Glauben konvertierten deutschen Emeritus, ehedem Hirnforscher, anzutreffen. Nun aber sind wir irrtümlicherweise, statt in die Semmelweisstraße, in diese hier eingebogen und haben das Ziel verfehlt.

Mit dieser Straße stimmt etwas nicht. Auf den ersten Blick scheint sie breit, gerade, städtisch, beim zweiten dann verlassen und still. Vor den Häusern parkt kein Auto, die Straßenbahnschienen glänzen nicht im Sonnenlicht, sie rosten. Hier kann niemand mehr wohnen. Wir beschließen, das Phänomen zu Fuß zu erkunden, und spazieren an diesem hellen, klaren Sommertag an grauen, leicht mit Stuck verzierten, bröckelnden Fassaden entlang, die sich endlos dahinziehen. Vorbei an klaffenden Haustoren und leeren Geschäften. Fast überall sind die Fensterscheiben zerschlagen, ohne daß Splitter zu sehen sind auf dem Trottoir. Was für ein Vandalismus! Man hinterließ den Ort der Zerstörung besenrein.

Die Straße gibt es nicht mehr, wie es scheint. Alle Straßenschilder und Hausnummern sind abmontiert, vielleicht hat man sie anderswo gebraucht. Durch eine kleine Seitengasse gelangt man zu verlassenen Schrebergärten, die sich, durch einen Weg getrennt, an den Hinterhöfen der Häuser entlangziehen. Obwohl auch hier niemand mehr der Verwüstungslust Einhalt gebietet, blüht und gedeiht es dennoch neben den zerschlagenen Lauben. Überall verstreut liegen weiße Federn, als hätte es ein massenhaftes Geflügelschlachten gegeben. Es waren aber nur die von Kinderhand aufgeschlitzten Plumeaus und Kopfkissen, die ihren Inhalt verloren haben, und man kann nur ahnen, wie lang der Tod dieser Hühner und Gänse schon zurückliegt, von denen all das stammt.

Von hier aus erst ist der wirkliche Zustand der Häuser zu erkennen. Da stehen Ruinen mit halboffenen Dächern, verrotteten Fenstern und Balken, schimmelnden Hauswänden. Die alten Waschhäuser in den Höfen sind verwüstet, die Mauern zertrümmert. Schutt- und Müllberge türmen sich auf. Über sie hinweg, in die Häuser und durch die Schrebergärten, schlängeln sich schmale festgetretene Wege, so als gäbe es einen stetigen Wildwechsel hier. Im Staub zwischen dem Gerümpel findet sich eine reiche Auswahl an Broschüren und Handbüchern zum Verständnis der Situation. In der Direktive des XI. Parteitages der SED zum Fünfjahresplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR in den Jahren 1986 bis 1990 sagte Günter Mittag in seinem Vorwort: „In der Tätigkeit der SED steht der Mensch und seine allseitige Entwicklung im Mittelpunkt allen Tuns und Handelns. Diese bewährte Politik der SED wird vom Volk verstanden und durch hervorragende Arbeitsleistungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens unterstützt.“ Weiter hinten, wo vom geistig-kulturellen Lebensniveau des Volkes die Rede ist, wird das „Wohnungsbauprogramm als Kernstück der Sozialpolitik der Partei der Arbeiterklasse“ gepriesen, deren Probleme bis 1990 gelöst sein werden.

Die Strafe für jahrelanges Herunterleiern der an sich hehrsten Ziele folgte auf dem Fuße. Die Havarie, die hier stattgefunden hat, wirkt endgültig, die Havaristen sind in alle Winde zerstreut und die Schiffbrüchigen haben sich ins geistig-kulturelle Lebensniveau der Klassengesellschaft hinübergerettet. Wenn auch ohne Erfolg, wie eine ältere Frau erzählt, die gerade dabei ist, ausgestochene Pflanzen in ihren Leiterwagen zu laden: „Na sehnse sich das doch an hier, wie das aussieht! Das sollte alles weggerissen werden und neu bebaut, aber damit ist wohl nichts. Ich hol mir für meinen Garten ein bißchen was, man kanns ja nicht mitansehn, wie alles umkommt. Und so isses doch überall, mal ehrlich gesagt, die machen uns doch kaputt und betrügen uns nebenher noch nach Strich und Faden! Reisefreiheit? Für mich nich! Mein Mann ist Rentner und ich bin in der Übergangsregelung, bekomme 63 Prozent vom letzten Nettoverdienst, der war 660 Mark, Sie können sichs ausrechnen. Ich hab mein Leben lang gearbeitet, 42 Jahre lang, drei Jahre hätte ich noch gehabt, ich wäre leicht auf meine 45 gekommen, wenn das alles nich geschehen wäre. Nun leben wir vom Ersparten. Aber nun frage ich Sie, ist das der Sinn, daß ich das, was ich unter Honni erspart habe, nun unter Kohl gleich wieder ausgeben muß aus Not? Man will sich ja nichts schenken lassen... aber das kann nicht der Sinn sein! Ich sag Ihnen eins im Vertrauen, wenn der DDR-Bürger mal sein Erspartes aufgezehrt hat, und das wird bald sein, dann steht die Weimarer Republik vor der Tür! So ist das... na, ich wünsch Ihnen noch einen schönen Tag.“

Wir widmen uns wieder den Häusern. Die Anziehungskraft von Ruinen ist wunderbar, sie wirken so zuversichtlich und versprechen, daß einmal alles fällt: schlechte Behausungen, Grenzen, und selbst der Staat. Die ganze Kulisse.

Einstweilen aber müssen wir uns mit der im Stich gelassenen Geschichte begnügen, die hier einen imposanten Anblick bietet. Passend, zur vollkommen ausgebrannten Garage, in deren geschwärztem Gemäuer das ausgeglühte Wrack eines Wartburg unter verkohlten Dachbalken herumsteht, findet sich auf dem nahegelegenen Schutthaufen ein Taschenkalender der Feuerwehr von 1975, der, außer ein paar Stockflecken, keinerlei Beschädigungen hat. Da steht zum Beispiel: „Bei der Auswahl der Löscharten sind eventuelle Sekundärschäden, die durch das Löschmittel hervorgerufen werden können, zu beachten.“ Im Vorwort dankt man der mächtigen Sowjetunion ausschweifend für die Zerschlagung des faschistischen deutschen Imperialismus und für die im Geiste des proletarischen Internationalismus geleistete Unterstützung und Hilfe bei der demokratischen Entwicklung der DDR und der Abwehr imperialistischer Einmischung und Intervention. In Kinderschrift steht am 2. Januar eingetragen: „André Hening eingeliefert“, und am 18. Januar: „André Hening endlassen!“ Das ist alles.

Auch im Inneren der baufälligen Häuser hat es hier und da gebrannt. Sie stammen wahrscheinlich aus der Zeit kurz nach der Jahrhundertwende. Ihre dunkelgebeizten Treppenhäuser haben schön geschwungene Treppengeländer und immer noch einen speckigen Glanz von den zahllosen Berührungen. Die finsteren Kellertreppen hinunter quillt in Kaskaden schmutzige Kleidung und Müll, von unten herauf dringt ein kalter modriger Hauch. Im obersten Stockwerk steht nur noch ein schwärzlich zerbröselndes Treppengeländerskelett, die Ölfarbe an den Wänden ist zu verkohlten Blasen erstarrt. Bis zum Dachboden aber ist das Feuer anscheinend nicht gedrungen, jedenfalls nicht das in unkontrollierter Form. Unter dem gewaltigen Gebälk, etwas abseits der Tür, in einem geschützten Winkel, liegt ein Häuflein Asche, sorgfältig mit Mauersteinen eingefaßt, daneben Konservenbüchsen und ein Stapel 'Neues Deutschland‘ aus dem Jahr 1989. Offenbar eine Kochstelle. Man hat sich aus der unteren Wohnung die Sitzelemente von der Polstergarnitur heraufgeholt, ein paar dicke grüne Vorhänge zum Zudecken gefunden. Zum Bier gab's anscheinend dicke weiße Bohnen aus der Büchse mit Senf.

Außer den Stadtstreichern trauen sich wohl nur noch Kinder hier herauf. Was im Westen die weit verbreitete Angst vor dem Zeckenbiß im Wald ist, ist im Osten die vor der Taubenzecke auf den Dachböden. An Tauben jedenfalls herrscht hier kein Mangel. Sie fliegen durchs kaputte Dach ein und aus, denselben Weg nimmt auch das Tageslicht. Jetzt weiß ich, was mich schon die ganze Zeit irritierte: es ist viel zu hell auf diesem Dachboden.

Dafür findet sich ein paar Häuser weiter ein Dachboden, auf dem es viel zu dunkel ist, der also ein intaktes Dach haben muß. Erst ist gar nichts zu erkennen, dann, allmählich, hebt sich eine rätselhafte Konstruktion aus dem Dunkel heraus, eine Unzahl miteinander verbundener, senkrechter Latten oder Stäbe. Sind es Hühnerställe, Käfige? Die Gebilde sind in Reihen angeordnet, durch schmale Gänge getrennt und wesentlich zahlreicher, als es Mietparteien im Hause gegeben hat. Alle Käfigtüren stehen offen, die Schlösser fehlen, es herrscht gähnende Leere und Sauberkeit. Die senkrechten Stangen sind Haselnußstangen, solche, wie man sie früher auch zu Skistöcken verarbeitet hat.

In den Etagen finden sich die vielfältigsten Versuche, der spartanischen Dreiraumwohnung mit Außentoilette ein wenig Komfort und Chic zu verschaffen. Es gibt eingebaute Badewannen, in schmalen Räumen, die man von der Küche abgezweigt hat, holzverschalte Zimmer und Flure, abgezogene Dielen, großblumig tapezierte Zimmer. In den Küchen finden sich hier und da gekachelte Stellen um das Spülbecken herum, die sich nicht mehr ablösen ließen und teilweise zerschlagen sind. Zurückgelassen hat man in einigen Wohnungen auch jene typischen Küchenschränke aus der Zeit des Nationalsozialismus, bei denen alles so symmetrisch ist. Aus ihnen herausgefallen liegen Töpfe, zerbrochenes Geschirr, Glas und Aluminiumbesteck durcheinander, und immer wieder braun emaillierte Töpfe, Kasserollen und Lavoirs, die man wohl, in der Hoffnung auf Edelstahl, nicht mehr um sich haben wollte. Diesen Arbeiterküchen ist noch anzusehen, daß man in ihnen nicht mit Madeira abgeschmeckt hat. Hier wurde wenig verschwendet, von der Jahrhundertwende bis zur Räumung.

Im vierten Stock scheint die Sonne ins Zimmer, eine halb abgerissene Fototapete mit Herbstwald weht leise im Wind, durchs Haus schallt das Zwitschern der Spatzen. Auf einer Holzkiste sitzend betrachte ich den Inhalt einer zerschlissenen Schultasche: Bücher, Hefte und Ordner. Es gibt einen ganz neuen Block, als Emblem trägt er ein grün eingefaßtes weißes Dromedar, darunter steht: „Arbeitsblätter — für Schule und Berufsausbildung. 64 Bl. holzh. EVP —,65.“ In einem Ordner finden sich Schul- und Hausarbeiten. JacquelineS. schrieb im Januar 1989 über den „Charakter der gegenwärtigen Epoche“ eine sechsseitige Arbeit. Unter dem Stichwort „Hunger“ führt sie zum Beispiel auf:

„1.Wodurch verursacht?: Durch Rüstung und Kriege

2.Wer verursachte es?: Monopole/ Rüstungsmonopole

3.Wie lösbar?: Abrüstung, das Geld für nützliche Dinge ausgeben“

In einem Zusatz, ganz klein dazwischengequetscht, steht zu lesen: „Wurzeln liegen in der Kalorienzahl!“

Dafür gab's eine Zwei. Ebenso für die Bearbeitung des Themas „Der Imperialismus als Monopolkapitalismus, als faulender und sterbender Kapitalismus“, die mit dem kryptischen Satz endet: „KV immer mehr zu Ungunsten des Imp. (trotzdem noch große Machttendenzen — wirtschaftlich, militärisch, ideologisch!).“ Rotgeschriebene Anmerkung des Lehrers: „Rand?“

Zwei Häuser weiter hat sich ThomasJ. von all seinen Medaillen und Ehrenurkunden getrennt. Bei der Kinder- und Jugendspartakiade 1979 belegte er den dritten Platz im 50-Meter-Schmetterlingsschwimmen. Da liegt sie nun, die federleichte Goldplakette am blauen Band, ebenso wie die „Urkunde für die Teilnahme am erfolgreichen wehrsportlich-touristischen Wettbewerb, Marsch der Bewährung, Rügen, Feriensommer 1979“ und auch die Kontrollkarte für Gewerkschaftsmitglieder, beklebt mit bunten Wertmarken, deren letzte auf dem November 1989 haftet. Verstreut liegen herausgerissene Blätter eines Fotoalbums herum, in dem besondere Momente im Leben des ThomasJ. im Bild festgehalten wurden. 1980 war er ein dunkelhaariger, leicht gelockter Knabe, der in hellem Jackett erwachsen in die Kamera blickt und drei lachsrote Gerbera umklammert hält. Daneben steht in Zierschrift: „Am Abend vor der Jugendweihe.“ Die Jugendweiheurkunde findet sich nicht weit davon. In grauen Druckbuchstaben wünschte man: „Alles Gute und viel Erfolg in Deinem künftigen Schaffen für die Deutsche Demokratische Republik.“ Auch dazu gibt es etwas Passendes, eine mit rotem Kunstleder bezogene Mappe, auf der in Goldprägung steht:: „ZUM LEHRBEGINN. VEB Spezialbaukombinat, Beton- und Kühlturmbau Leipzig.“ Drinnen eingeheftet findet sich eine herzzerreißende Arbeit mit dem Titel: „Erläutern Sie die politische und ökonomische Bedeutung des Schornsteinbaus in unserer Republik!“ ThomasJ. ging das undankbare Thema unbefangen an: „Der ökonomische Nutzen vom Schornstein ist, daß er den Rauch ableitet. Es wurden in Schornsteine Filter eingebaut. Der politische Nutzen ist, Schornsteine werden mit Braunkohle und Steinkohle beheizt. Wir stellen jetzt aber alles auf Erdöl und Erdgas um. Erstens kommt es billiger und zweitens führen wir es aus der UdSSR ein!“ Der empörte Lehrer malte ein großes rotes Fragezeichen an den Rand.

Unten in den Schrebergärten treffe ich Elisabeth wieder, die inmitten duftender gelber Rosen auf einem Mäuerchen sitzt und im gefundenen Handbuch für militärisches Grundwissen blättert. Vorn auf der Straße findet sich überraschend eine geöffnete Metzgerei und gegenüber ein kleiner Konsum. An der Decke der Metzgerei sind wunderschöne Hinterglasmalereien, die das Schlachtvieh in naiver Manier zeigen, wie es sich noch bei voller Gesundheit befindet. Wir erfahren, daß man hier kein Fleisch mehr führt, stattdessen die Versorgung der Bauarbeiter übernommen hat. „Jeden Tag so 50 Essen, heute hatten wir Spinat, Salzkartoffeln und Setzei. Und dann haben wir noch Kaffee und was man eben sonst alles so braucht. Im Haus gegenüber wohnen die zwei alten Schwestern, die sich geweigert haben auszuziehen, hinten wohnt ein Mann mit seiner Mutter. Wir wissen nun auch nicht, was wird. Mal hieß es, hier soll alles weg und die Straße ganz verbreitert werden, dann wieder sollen wir hier stehnbleiben, auf dieser Seite. Das ist das Elternhaus meines Mannes, müssen Sie wissen.“

Von einer Frau, die hier aufgewachsen ist, erfahre ich später mehr. Wir befinden uns in der Leninstraße, die sich von der Stadtmitte aus hinzieht bis zu den Vororten und dann Hauptausfallstraße wird zur Autobahn nach Dresden. Sie führt vorbei am Messegelände und Völkerschlachtdenkmal. Ende der achtziger Jahre beschloß man, den oberen Teil bis zur Messe in eine prachtvolle Zufahrtsstraße umzuwandeln. Die ganze Häuserzeile sollte abgerissen, durch Neubauten und eine verbreiterte Straße ersetzt werden. Diese Neubauten, so sah es das Modell vor, sollten die gewohnte DDR-Norm sprengen und mit Straßencafés, Arkaden und Geschäften das Auge des internationalen Messepublikums betören.

Im Herbst 89, noch einige Zeit vor der Wende, wurde mit der Räumung begonnen. Vom Ostplatz bis zur Semmelweisstraße stehen fast alle Häuser leer. Die Straßenbahn verkehrt seit 1989 nicht mehr. Seit 1990 stagniert alles. Der Grund und Boden steigt ständig im Preis. „Was mit unserem Haus geschehen wird, weiß so recht keiner. An sich sollte hier alles weg“, sagt die Frau. „Auch mein Garten. Ich bin ja in der Gartensparte Thonberg. So um die 200 Quadratmeter hat jeder von uns. Vom Küchenfenster aus kann ich in meinen Garten gucken. In den vierziger Jahren sind wir in diese Gegend hier gezogen. 1941 wurden wir ausgebombt, in unserem Häuschen in Thekla, denn das lag nahe beim Flugzeugwerk Erla. Wußten Sie, daß es hier in Leipzig ein KZ gab? Das war in Thekla. Ein Außenkommando von Buchenwald. Dort hat man auf einem eingezäunten Lagergelände Häftlinge eingesperrt für die Zwangsarbeit im Flugzeugwerk, Hunderte sollen da gewesen sein. Ich war ja noch ein Kleinkind damals, aber meine Brüder haben es mir erzählt. Als die Amerikaner näherrückten, im April 45, hat die SS ein Massaker angerichtet unter den Häftlingen. Das weiß heute kaum noch jemand. Mein Vater war im Rotfrontkämpferbund und eingesperrt in der ,Westerburg‘, das nannte man früher so, das Untersuchungsgefängnis in der Beethovenstraße. Nach dem Krieg ist mein Vater gleich in den Bergbau gegangen zum Arbeiten, erst unter Tage, dann oben. Ich weiß noch, es gab deutschen Käse auf die Wismutmarken. Wir waren ja zehn Kinder, ich bin die Jüngste. Mein Vater ist bald gestorben an der Staublunge. Seit 24 Jahren wohne ich nun in der Leninstraße, man kannte alle, und nun sind sie weg. Das war immer eine Arbeitergegend hier, da gabs einigen Widerstand im Faschismus, in dieser Straße. Damals war sie übrigens dreigeteilt. Vom Johannisplatz bis zum Ostplatz hieß sie Talstraße, vom Ostplatz bis zur Tabaksmühle hinter der Messe Reizenhainerstraße, und von da ab Preußenstraße. Und genau so soll sie demnächst wieder heißen, das ist bereits beschlossen. Ich frage mich nur wozu? Als Messemagistrale ist sie nicht mehr in der Planung. Es soll ja das ganze technische Messegelände von der Leninstraße weg in den Nordosten verlagert werden, irgendwo nach Möckern, Richtung Schkeuditz. Das Konzept ist von Mai und endgültig entschieden wird im Oktober. Was aber mit unserer Straße werden soll, ist unklar, Sie sehen ja, wie alles mehr und mehr zerstört wird. Wenn es nach mir ginge, ich würde ja eigentlich am liebsten in meiner Wohnung bleiben, obwohl es vom vierten Stock herunter durchregnet und das hintere Zimmer nicht zu benutzen ist. So ein Dach kann ja gerichtet werden, heute, wo es Ziegel und alles gibt. Aber die Eigentumsverhältnisse sind ungeklärt, und so können wir nur abwarten und hoffen, daß es keine Herbststürme und Platzregen gibt oder noch Schlimmeres...“

Nach Einbruch der Dunkelheit liegt die Abbruchzeile Leninstraße vergessen da. Allmählich werden die beiden Schwestern, die zwei sehr, sehr schmutzige alte Damen sein sollen, verbarrikadiert hinter schweren Türen, zu Bett gehen. Ihre Fenster glimmen wie Irrlichter auf den endlosen schwarzen Häuserfronten.

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