Japan: Sportsaison für Intellektuelle

In Tokio gibt es für Querdenker und Abweichler außer Baseball nichts zu feiern  ■ Aus Tokio Georg Blume

Das Saisonende hat die Verhältnisse derartig durcheinandergebracht, daß Nonkonformisten, Querdenker und andere Abweichler in diesen Tagen in Schwärmerei und Entzücken geraten. Selten gibt es in Japan diese Momente, in denen diejenigen, die von der Normalität abweichen, triumphieren. Doch die japanische Baseballsaison in diesem Jahr macht es möglich.

Sang- und klanglos ist das große Team der Yomiuri- Giants aus Tokio in den letzten Wochen untergegangen. Nippons bestbezahlte Sportler trafen mit ihren Holzkeulen den Ball nicht mehr — und alle kritischen Geister im Lande lachten! Denn die allgemeine Begeisterungsfähigkeit der JapanerInnen für das Baseballspiel erschöpft sich längst nicht mehr im populären Sportvergnügen. Wer hier welche Mannschaft liebt, gibt mit seiner Präferenz auch ein wenig gesellschaftliche Grundeinstellung preis. Schließlich ist alles so vorgesehen, damit alle nur eine Mannschaft lieben. Die Mannschaft nämlich, die in allen Kneipen des Landes beklatscht wird, weil einzig und allein ihre Spiele jeden Abend live über den Bildschirm gehen. Die Mannschaft, deren sportliche Heldentaten jeden Tag in der auflagenstärksten Zeitung des Landes, der 'Yomiuri Shinbun‘, gewürdigt werden und deren einzelne Baseballrecken immer ein bißchen überheblicher, immer ein bißchen arroganter als ihre Gegenspieler wirken: Das sind die Yomiuri-Giants, mehr noch als die Münchener Bayern des deutschen Fußballs, weil sie seit nun schon über dreißig Jahren nahezu alles gewinnen, was es im japanischen Baseball zu gewinnen gibt — bis in diesem Jahr alles schiefging.

Die Freude unter denen, die auch sonst immer nur auf die Chance warten, etwas Sand ins Getriebe dieser perfekt funktionierenden japanischen Gesellschaft zu streuen, ist riesengroß. Ausgerechnet das Outsider- Team aus Hiroschima, die einzige Mannschaft, die sich noch nicht im Besitz einer großen Firma befindet, wird nun die Meisterschaft gewinnen. Die Welt ist verkehrt. Japanische Freunde und Bekannte, mit denen ich sonst über alles rede, aber nicht über dieses US-amerikanische Keulenspiel — alle quatschen wir jetzt nur noch vom Baseball.

Dabei besteht wahrlich kein Mangel an Themen mit aktueller Brisanz. Die Problematik hinter den japanischen Finanzskandalen bleibt bis heute ungelöst. Schon Ende Oktober steht die Wahl des Premierministers in der liberaldemokratischen Regierungspartei LDP auf dem politischen Kalender der Nation. Noch in dieser Woche starten die Atomtransporte zur geplanten Wiederaufarbeitungsanlage in Rokkasho (Nordjapan). Doch so groß erscheint dieser Tage die Ermüdung intellektueller Kreise in der japanischen Hauptstadt, daß keine neue Analyse eines bekannten Professors, keine Empörung betroffener Bürger und kein Appell einer Partei dort mehr Aufmerksamkeit erlangen könnte als das nächste Baseballspiel.

Vielleicht muß das so sein, spielt sich im Baseball doch nun jeden Abend das Unerwartete ab — denn Hiroschimas Siegeszug ist nicht mehr zu stoppen —, während die Politik nur täglich alle Erwartungen, und zudem die allerschlimmsten, erfüllt. Das Aufbegehren lokaler Bürgerinitiativen gegen die Atomtransporte wird vom Ministerium selbstverständlich abgelehnt. Über die Person des Premierministers entscheiden erneut nur die abgedienten, altersgrauen Fraktionsfürsten der LDP. Die Finanzskandale spielen sich im undurchdringlichen Netz der Börsennomenklatura ab, durch das keine Kritik von außen hindurchkommt. Was lohnt es da, sich aufzuregen.

Leider ist die Saison nun bald vorbei, und Herbst und Winter versprechen kaum volksbewegende Ereignisse. Es sei denn — auch eine Hoffnung der Tokioter Querdenker —, der US-Amerikaner Konishiki könnte womöglich bald als erster Ausländer in der Geschichte des streng traditionellen Kampfsports Sumo den Ehrentitel des „großen Champions“ erhalten. Das wäre wieder ein Grund zum Feiern, und andere wird es so bald nicht geben.