Traumverkehrt

Brian Friels „Lughnasa“ in Hamburg erstaufgeführt  ■ Von Niklaus Hablützel

Lughnasa“ ist ein gälisches Wort, steht für eine Göttin, vielleicht auch für einen Gott, vor allem aber für ein Fest. Es wird, wie es heißt, „oben auf den Hügeln“ gefeiert. Kate, die Lehrerin, schüttelt sich schon beim Gedanken daran vor Grausen. Kate lebt in Ballybeg, Donegal County. Spätestens aus dem Programmheft haben wir gelernt, daß sich dieses Dorf in Nordirland befindet. Wer dort katholisch ist, ist es gründlich, aber das müssen wir nun nicht mehr wissen, Marlen Dieckhoff zeigt es. Mit Einkaufstüten kommt ihre Kate an, hat nichts vergessen, Gott sei dir gnädig, auch nicht die Zigaretten für Maggie und nicht die neue Batterie für das Radio.

Michael Bogdanov, der nur noch amtierende Intendant, macht es seinen Hamburgern mal wieder schwer. Man mag hier seine Stücke nicht, auch wenn sie gut besucht sind. Irgend einen Volkstanz, eine irische Schafschur und dergleichen hat er noch in jedem Shakespeare untergebracht: ein walisischer Ire mit russischem Namen, also nicht gerade das, was ein Shooting-Star des deutschen Staatstheaters sein sollte. Der Fall schien erledigt, und Lughnasa Tanz auch. Das konnte nur abendfüllender Volkstanz werden. Nun das.

Es beginnt sehr langsam, eine Geige spielt mit viel zu viel Hall eine Volksmelodie. Auf der Bühne steht eine Bauernkate aus Maschendraht. Der Einfall des Bühnenbildners Chris Dyer (Bogdanov mag in Hamburg nur noch mit ihm inszenieren) ist nicht weniger durchsichtig, aber er wird sich bewähren. Das Haus ist ein Umriß, materiell verschwindend, und die Küche steht schon vor der Fassade. Natürlich muß sie das, weil wir sonst nicht hineinsehen könnten. Aber sogar dieser Trick wird noch etwas mehr zu sagen haben. Der Raum ist traumverkehrt, es stimmt etwas nicht und stimmt doch haargenau, weil eine Erinnerung es so zeigt.

Es ist Brian Friel, der sich erinnert. In den zwanziger Jahren ist er in Nordirland geboren worden. Rainer Strecker, Blondschopf und mit Weste, erzählt jetzt davon. Hier lebte Chris, seine Mutter. Er macht das Radio an. Tante Maggie wollte es taufen, Tante Kate hat es verboten. Das Radio ist Sünde, und Onkel Jack kam aus Afrika zurück. Der katholische Pastor hat dort eine Leprastation geleitet, Ballybegs Zeitung war voll davon. Wo bliebt das Theaterstück? Und wo der Volkstanz?

Der kommt aus dem Radio, das Stück auch. O-Töne blenden zurück in die letzten Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg. Das Theater müssen die Schauspieler und Schauspielerinnen hinzuliefern, sie vor allem. Was tun fünf Frauen in einem einsamen Bauernhaus, darunter Chris mit ihrem unehelichen Kind, das wir nur als den jungen Mann kennen, der sich erinnert? Schweigen sie, quasseln sie, streiten sie? Alles und jedes verlangt eine bühnenwirksame, sichtbare Antwort: Wenn ein Stück schon so anfängt, wollen wir schließlich wis-

sen, wie es wirklich war. Die Premiere macht nervös (Bogdanov wird sowieso ausgebuht), das Spiel stockt noch, man sieht die Mühe des Sprechens, und auch nach der Pause wird es noch einmal durchhängen. Aber dann räumt Cordula Gerburgs Patent-Tante Maggie auf, haarscharf am Ohnsorg-Theater vorbei, macht den Weg frei für die schönen Schwestern Agnes und Chris, die eine, Andrea Lüdke, strickt Handschuhe, blickt von unten über die Hornbrille weg von der Heimarbeit für den örtlichen Kapitalisten; Susanne Schäfer, die andere, wird noch schöner werden, wenn Gerry kommt, Vater ihres Kindes, Traumtänzer, Schnorrer und ungelogen ein Lügner. Niemand aber darf nur das eine bleiben, auch er nicht, und Marcus Bluhm läßt seine Figur trotz weißem Anzug auch ein wenig treuherziger Bauer sein. Und auch Kate bleibt gar so katholisch nicht, wird weich um die Hüften, wenn Gerhard Garbers dahertappt, der Onkel Jack aus Afrika. Nein, die Messe wird er hier nicht mehr lesen; mit ihm und mit dem Radio, aus dem der Swing schmalzt, kehrt das Stück zu seinem Titel zurück: „Lughnasa Tanz“. Ein gälisches Wort, aber es klingt verflucht afrikanisch. Nicht oben auf den Hügeln, unten im afrikanischen Dorf hat der Pastor seinen heimatlichen Ritus wiedergefunden. Die dumme Schwester Rose wird am Ende mit einem toten Voodoo-Hahn herumirren, aber auch die anderen Schwestern zeigen Unaussprechliches: ihre Unterhosen, wenn sie loslegen zum Küchentanz, weil sie zum Heidenfest nun doch nicht nach draußen gehen mögen.

Hat Bogdanov immer schon so etwas im Sinn gehabt mit seinen Tänzereien? Kate sagt über den Heidenonkel Jack, den sie heimlich liebt: „Es ist seine persönliche Suche.“ Vielleicht gilt das auch für den Regisseur. Dann muß er wohl noch lange suchen. Denn es gibt nicht allzu viele Brian Friels und nicht überall ein Ensemble wie das des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Einer jener ganz großen Theaterabende ist auch so nicht zustande gekommen. Dafür fehlt Friels Text die Dramatik, er blieb eine Erzählung für Schauspieler. Ein etwas verdutztes Publikum saß vor diesem schrecklich unmodernen Realismus armer Leute. Daß sie außer sozialen Problemen nun auch noch einen lebendigen Mythos besitzen: das verwirrt. Entweder Karl Marx oder Lévi- Strauss, aber nicht beides. Weil aber so hervorragend gespielt wurde, blieb nichts anderes übrig, als ziemlich laut zu klatschen.

Brian Friel: Lughnasa . Regie: Michael Bogdanov. Bühne: Chris Dyer. Mit Marcus Blohm, Marlen Dieckhoff, Gerhard Garbers, Susanne Schäfer, Anna Polke, Rainer Strecker, Cordula Gerburg. Schauspielhaus Hamburg. Nächste Aufführungen: 4., 5., 10., 18.10.