Einsfünfundachtzig, hundert Kilo

Heute wird er 60 Jahre alt. Der Schauspieler Philippe Noiret gibt Auskunft über sich selbst. Ein Interview  ■ Von Gerhard Midding

taz: Monsieur Noiret, am Anfang Ihrer Karriere standen fünfzehn Jahre am ThéÛtre National Populaire. Angesichts Ihrer späteren Karriere offenbar eine sehr gute Schule. Was zeichnete Jean Vilar als Theaterleiter, Regisseur und Lehrer aus?

Philippe Noiret: Er war einer der besten europäischen Nachkriegsregisseure. Jean Vilar war ein außergewöhnlicher Mensch, der Wert legte auf absolute Ehrlichkeit der Darstellung. Er liebte die Schauspieler, und seinem Verhalten ihnen gegenüber fehlte jegliche... Perversität. Vilar entschied sich immer erst im letzten Moment, welches Stück er aufführen wollte. Er zögerte die Entscheidung ständig hinaus und sagte dann: „In einem Monat spielen wir „Don Juan“! Man spielte jeden Abend und probte am Nachmittag. Er ging die Szenen zunächst mit jedem einzelnen Schauspieler durch: Er arbeitete ein wenig wie ein Freskenmaler. Dabei übertrug er den Schauspielern sehr viel Verantwortung. Er lehrte uns alle eine Moral des Schauspiels. Denn sein Theater war etwas Besonderes: Es war tatsächlich populär, richtete sich auch an Leute, die sonst nicht unbedingt ins Theater gingen. Dank der frühen Anfangszeiten und der niedrigen Eintrittspreise erschloß er sich auch Teile der Arbeiterklasse als Publikum. Die Zuschauer konnten direkt nach der Arbeit ins Theater kommen, dort zu Abend essen, als Programmheft bekamen sie den vollständigen Dramentext.

Zu dem Ensemble gehörte auch Gerard Philipe. Wie fügte der sich — als großer Kinostar — in die Truppe ein?

Als guter Kamerad. Er stand vor allem Vilar sehr nahe. Er war wunderbar. Was er als Kinoschauspieler leistete, war sehr schön. Aber auf der Bühne war er genial. Einmal war ich sein Partner in einem Musset-Stück, ich glaube, es war „Lorenzaccio“. Oft passierte es mir, daß ich in den Szenen, in denen ich nicht auftrat, einfach hinter der Bühne blieb, um seinen Monologen zuzuhören. So etwas passiert Schauspielern nicht häufig. Sein Spiel war, wie es bei Genies ja der Fall sein kann, von sehr unterschiedlicher Güte. Er konnte auch richtig schlecht sein. Nur mittelmäßige Schauspieler sind immer gleich: mittelmäßig.

Ihr Durchbruch im Kino überschneidet sich mit den Anfängen der „Nouvelle Vague“. Sie waren aber nie ein Teil dieser Bewegung. Es gibt eigentlich nur drei Filme, in denen sie mitspielen: „La pointe courte“ von Agnes Varda, „Zazie dans le metro“ von Malle und „Thérèse Desqueyroux“ von Georges Franju, in dem sie eine wundervoll subtile Studie ehelicher Grausamkeit liefern.

Ich glaube, diese Regisseurgeneration — Truffaut, Chabrol, Godard und andere — war einfach nicht an einem Schauspieler interessiert, der wie ich eine klassische Theaterausbildung genossen hatte. Zu den drei Filmen, die Sie erwähnten: „La pointe courte“ lag eigentlich noch vor dieser Zeit. Louis Malle gehörte auch nicht richtig dazu, obwohl er zur gleichen Zeit arbeitete wie die Nouvelle-Vague-Regisseure, denn er machte ein weitaus traditionelleres Kino. Und Franju, ein Regisseur, den ich sehr, sehr schätzte, war eigentlich fast ein Vorläufer der Bewegung.

Einer Ihrer jüngsten Filme ist die Adaption von Marcel Aymés Roman „Uranus“. Empfanden Sie — vor dem Hintergrund der äußerst zwiespältigen Rolle, die dieser Autor während der Okkupation spielte — nicht eine gewisse Skepsis, bei der Verfilmung mitzuwirken?

Nein, überhaupt nicht. Ich hatte keine Skrupel, denn wenn man eine Figur verkörpert, muß man sich nicht automatisch zum Sprachrohr ihres Autors machen. Ich teile längst nicht alle Ansichten Watrins! Aber ich bin eine Interpret: Ich spiele eine Figur, die mich interessiert, in einem Werk, das mich interessiert. Und Watrin ist eine interessante Figur: (lacht) ein wenig verrückt, wie ein Planet, der sich ganz langsam um sich selbst dreht. Tatsächlich war Marcel Aymé eine sehr eigentümliche Figur in der Landschaft der französischen Politik. Er schrieb während des Krieges für einige Zeitungen, die mit den Besatzern kollaborierten...

Unter anderem für die berüchtigste: 'Je suis partout‘.

Richtig. Auf der anderen Seite war er gegen die Ziele der Nationalsozialisten. Er war ein Außenseiter, und natürlich hatte er nach der Befreiung die allergrößten Schwierigkeiten. (zögert) Sein Verhalten war sehr ungewöhnlich, er wollte nie einer Partei oder ähnlichem angehören. Zweifelsohne war er ein Mann der Rechten, aber auch ein freier Mann. Er fühlte sich in seinem Verhalten nur sich selbst verantwortlich und verspürte nie den Drang, sich einer Gruppe oder einer Bewegung anzuschließen.

Ich möchte Ihnen ein Beispiel für seinen Charakter geben. Ich kannte Aymé nicht, hatte ihn zwar zwei- oder dreimal gesehen, aber er war ein Mensch, der nicht sprach, sondern nur beobachtete. Ich möchte Ihnen eine Vorstellung von seinem Charakter geben und eine Geschichte erzählen. Ich habe sie von Jacques Rispal, einem — bedauerlicherweise — unbekannter Schauspieler, der inzwischen verstorben ist. Rispal unterstützte die „Front National Algérien“ im Kampf gegen die Franzosen und kam vor Gericht. Er hatte in einigen Stücken Aymés gespielt, und obwohl der Autor — als Mann der Rechten — für ein französisches Algerien war, sagte er im Prozeß für Jacques aus. Er besuchte ihn auch später regelmäßig im Gefängnis. Er kam einmal wöchentlich, brachte ihm Zigaretten mit und fragte, wie es ihm ginge. Nach einer Viertelstunde kam der Wärter, um ihn wieder abzuholen. In der Zwischenzeit hatten Jacques und Aymé nicht mehr als drei Sätze miteinander gesprochen. Zum Abschied sagte er immer: „Adieu, Jacques, bis zur nächsten Woche.“ Das ging zwei Jahre lang so.

Das in „Uranus“ herrschende Klima hat mich sehr an eine Dialogzeile aus einem Ihrer früheren Filme erinnert: In „Der Uhrmacher von St. Paul“ heißt es einmal: „Die Hälfte aller Franzosen...

...sind Denunzianten.“ (Er lacht.) Leider halten wir auf diesem Gebiet einen traurigen Rekord. Das Denunziantentum ist einer der ausgeprägtesten, aber nicht unbedingt schönsten Charakterzüge unseres Volkes.

Es gibt gewisse Parallelen zwischen Watrin und Dellaplane, Ihrer Rolle in Taverniers „Das Leben und nichts anderes“: Beide Filme spielen in Nachkriegsjahren, aber die Figuren reagieren ganz anders auf das Grauen, das sie miterlebt haben. Wählen Sie gelegentlich auch Rollen bewußt wegen ihrer Gegensätzlichkeit aus?

Hm. Die Unterschiede sind gravierend. Aber wenn ich eine Rolle, einen Film beendet habe, verschwinden beide für mich — wie die unsichtbare Tinte, mit der wir als Kinder schrieben.

Dellaplane ist ein Offizier, er betreibt den Krieg als Beruf. Was mich an dieser Figur interessierte, war ihre innere Widersprüchlichkeit: Man kann sich Dellaplane in keinem anderen Metier vorstellen als dem eines Soldaten, und gleichzeitig rebelliert er gegen die Autoritäten und Hierarchien innerhalb des Militärs. Auch gegen die Macht. Er erinnert mich an die Figuren aus den Western John Fords. Sein Aufbegehren richtet sich gegen die Mächtigen, auch die Regierung, die nicht aufhören, das Volk zu belügen. Er hält es für seine Aufgabe, der ganzen Welt mitzuteilen, daß man sich geirrt hat, als man in den Krieg zog. Das erreicht bei Dellaplane fast den Grad von Besessenheit, Verrücktheit. Darin liegt vielleicht der einzige Punkt der Gemeinsamkeit mit Watrin: Sie sind beide verrückt. (lacht)

Beide Filme behandeln historische Stoffe. Haben Sie eine Affinität zu Historienfilmen, etwa aus Lust an der Recherche?

Sicher auch deswegen. Aber zunächst auch aus einem ganz einfachen Grund: In einem historischen Film trägt man Kostüme! Da trifft sich das Vergnügen des erwachsenen Schauspielers mit den Kinderträumen, die ihn zu diesem Beruf führten: Man kann sich verkleiden! Man kann sich in einen anderen verwandeln!

Die wirklich guten Historienfilme haben natürlich immer auch eine aktuelle Dimension: Sie berühren einen Nerv der Gegenwart.

Vor einiger Zeit hatte ich das große Vergnügen, Bertrand Tavernier zu interviewen und...

Bertrand muß man nicht viele Fragen stellen, nicht wahr? (lacht)

Stimmt. Er sagte, Sie beide hätten das gleiche Arbeitstemperament, wollen in die Arbeit eintauchen, aber erst beim Drehen ein Drittel des Filmes oder der Rolle entdecken.

Bei mir ist es mehr als ein Drittel. (lacht schallend) Mich überraschen Dreiviertel dessen, was aus einer Figur wird. Ich weiß vorher nie, was ich tun werden. Das ist in meiner Familie inzwischen zu einem Scherz geworden. Etwa eine Woche vor Drehbeginn gibt es regelmäßig einen Moment, wo ich zu meiner Frau, zu meinen Freunden ganz bestürzt sage: „Ich habe nicht die geringste Idee, was ich mit dieser Figur anfangen soll.“ Die entgegnen dann immer nur: „Ja, sicher. Wie gewöhnlich.“

Wie verträgt sich diese Spontaneität mit der langen Zeit, die Sie sich für die Vorbereitung nehmen? Tavernier erzählte, den Gehstock Dellaplanes hätten Sie schon ein Jahr vor den Dreharbeiten zu „La Vie Et...“ gekauft.

Nun, auch das gehört zu meiner Arbeitsmethode. Ich lege sehr viel Wert auf Kleidung, den äußeren Aspekt einer Rolle. Denn ich finde, man kann zwar die Kleidung für eine Figur aus der Idee heraus entwicklen, die man sich von ihr gemacht hat. Aber andererseits gibt es immer wieder Entdeckungen bei der Gestaltung des äußerlichen Aspektes, der einem psychologische Details dieser Figur enthüllt. Für einen wie mich, der sehr, sehr viele Rollen gespielt hat, gibt es noch einen anderen Grund. Man muß dem Zuschauer augenblicklich eindeutige Hinweise auf die Figur geben, man muß zeigen: „Diesmal spielt Noiret einen Offizier!“ oder „Diesmal spielt er einen sizilianischen Bauern!“

Diesen Stock hatte ich ganz zufällig gefunden. Auf historischen Abbildungen hatte ich gesehen, daß viele Soldaten und Offiziere Gehstöcke mit sich führten. Was ja auch nicht verwunderlich ist: bei den langen Märschen der Infanterie war es eine Erleichterung, sich abstützen zu können. Ich hatte bereits zwei Stöcke gefunden, die ihre Zwecke erfüllt hätten. Dann fand ich aber in Montpellier einen Antiquitätenhändler, der ein großes Sortiment hatte, er war beinahe spezialisiert auf Stöcke. Einer fiel mir besonders auf wegen der Schnitzarbeiten am Griff. Es stellte sich heraus, daß er tatsächlich einem Weltkriegsoffizier gehört hatte, ich fand eine Inschrift: „Erinnerung an Lysère (ostfranzösisches Departement) 1914-18“. Das nahm ich als glückliches Zeichen, die Götter waren mit uns! (entzündet lachend seine Zigarre)

Abgesehen von dem physischen Aspekt der Rolle: Suchen Sie auch einen roten Faden, ein „Rückgrat“, einen zentralen Dialogsatz?

Ja, oft. Oft gibt es das eine Wort, das eine Detail, das den gesamten Rest erhellt. Für die Rolle des Watrin ist das ganz offensichtlich sein Monolog über den Planeten Uranus. Der ist das Zentrum des Films, er erklärt nicht nur meine Figur, sondern den ganzen Film. Wenn man eine solche Szene gefunden und gut gespielt hat, ist alles übrige nicht mehr so wild: das kann man dann fast nach Belieben spielen.

Ein entscheidendes Merkmal Ihrer Karriere ist der Wechsel, die ständige Variation der Rollenfächer. War das ein Anreiz für Ihre häufige Zusammenarbeit mit Tavernier?

Bertrand hat mir die schönsten Kinorollen meiner Karriere gegeben. Und tatsächlich: sie alle unterscheiden sich gravierend voneinander. Ich habe für ihn einen Handwerker gespielt, einen Prinzregenten, einen Richter aus dem Großbürgertum der Jahrhundertwende, einen Verrückten, der sich in den afrikanischen Kolonien für Jesus Christus hält, und so fort. Bertrand hat mich regelrecht verwöhnt. Eine solche Mannigfaltigkeit ist sehr sehr selten. Und ich denke, unsere Zusammenarbeit ist noch lange nicht beendet.

Eine meiner Lieblingsrollen ist Michel Descombese in „Der Uhrmacher von St.Paul“. Ein Figur, die eine sehr langsame, schrittweise Entwicklung durchmacht. Stellte Sie dieses Tempo vor Schwierigkeiten? Oder war es ein Vorteil?

Es ist niemals schwierig, gute Rollen zu spielen. Man muß aufpassen, daß man sie nicht vermasselt, aber wenn sie gut geschrieben ist, fällt selbst das schwer. Und wenn der Kameramann und der Regisseur die Kamera an der richtigen Stelle postiert haben, kann fast gar nichts mehr passieren.

In „Une Semaine de Vacances“ greifen Sie und Tavernier die Figur des Michel Descombes erneut auf: Seine Entwicklung ist weitergegangen, wir erleben ihn einige Jahre später.

Ja, das war eine sentimentale Geste, ein Wachrufen einer alten Figur. So etwas gibt es im Kino sonst nicht. Die Hauptfigur eines Romans als Nebenfigur in einem anderen verwenden, das hat sonst nur Balzac gemacht. Die Zuschauer, die sich an den „Uhrmacher“ erinnern, wird das Wiedersehen vielleicht freuen, und die anderen stört es nicht. Mir hat es

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jedenfalls großen Spaß gemacht. Ich hatte sogar noch den Anzug aus dem früheren Film aufbewahrt und spielte auch darin — was Tavernier sehr überraschte. Die kleine Szene haben Michel Galabru und ich übrigens fast vollständig improvisiert.

Im Gegensatz zu der Vertrautheit mit Tavernier: Wie verhält es sich bei der Arbeit mit jüngeren Regisseuren? Fühlen die sich womöglich sicherer, wenn sie lange Gespräche über die Rolle führen?

Solche Regisseure versuche ich zu meiden! (lacht) Ich bin der Ansicht, daß man einen Film, eine Rolle sehr wohl „umkreisen“ sollte, aber Details nicht unbedingt ausdiskutieren muß. Ich glaube, die Schauspielerführung... Nun, sicher, sie sollte existieren... Aber für mich reicht es schon, wenn ein Regisseur ein Klima des Vertrauens und des gegenseitigen Respektes herstellt. Der Schauspieler sollte seinem Instinkt folgen, dabei aber immer im Auge behalten, daß der Regisseur das letzte Wort hat. Man muß auch die Freiheit besitzen können, sich zu irren. Man muß Risiken eingehen in seiner Interpretation, es genügt nicht, alles „korrekt“ zu spielen.

Ein Irrtum muß nicht gleich ein Drama sein. Für eine Szene in „La Vie et rien d'autre“, die ich zusammen mit Sabine Azéma im Auto spiele, hatte ich mir eine bestimmte Herangehensweise überlegt, die ich danach übrigens völlig verwarf. Bertrand jammerte sofort nach dem ersten Take. „Nein, das ist es ganz und gar nicht!“ Ich entgegnete: „Beruhige dich. Ich probiere doch nur etwas aus.“ Sabine war ganz erstaunt, Bertrand so zu erleben, und sagte zu mir: „O là là, wie können Sie dabei nur so gelassen bleiben?“

Aber auf solchen Freiheiten muß ein Schauspieler bestehen. Nach einem Fehler fällt es mitunter viel leichter, zur richtigen Interpretation zu finden. Man hat ja auch nicht sein Talent verraten, wenn man in einer Einstellung nicht überragend war. Das ist bei gewissen amerikanischen Schauspielern anders: Die wollen in jeder Einstellung etwas Interessantes, Besonderes machen. Ich liebe eher die Maler, die mit großen Pinselstrichen arbeiten, und nicht die Manieristen. Auch wenn sie ebenso große Künstler sind.

Sabine Améza ist eine Schauspielerin, die sich von Ihnen in Temperament und Technik sehr unterscheidet. Reizen Sie solche Gegensätze bei der Auswahl Ihrer Partnerinnen?

Selbstverständlich. Es war Madeleine Renaud, die zu einem jungen Schauspieleleven sagte: „Das Spielen ist ganz einfach: Du hörst zu, und dann antwortest du.“ (lacht) Als Anfänger ist man oft noch zu sehr eingenommen von sich selbst oder seinen Figuren. Man hat ein bißchen Angst, aber man will seine Sache besonders gut machen, will brillant sein. Für mich besteht die Hälfte des Schauspielerberufes allerdings darin, seinen Partnern zuzuhören, wie einer Musik. Vielleicht überrascht sie einen, dann versucht man, auf ähnliche Weise zu antworten. Das behagt mir sehr, bestätigt es mich doch in meiner Faulheit: Warum sollte ich mich groß auf meine Rolle vorbereiten? Wo ich doch gar nicht weiß, welche Art von Musik mir meine Partnerin vorspielen wird. Sie kann aufbrausend sein oder verhalten, heftig oder vorsichtig. Deshalb ist es gut, sich seine Unschuld gegenüber dem Partner zu bewahren.

Mit Annie Girardot, Catherine Deneuve und Romy Schneider haben sie häufiger zusammengespielt. Wie unterschiedlich klang deren Musik?

Sehr unterschiedlich! Annie ist eine eher instinktive Darstellerin, vor allem sehr schnell: Die Dialoge sprudeln fast im Stakkatorhythmus aus ihr hervor. Sie hat auch die Angewohnheit, den Rhythmus oder Tonfall in einer Szene ganz unerwartet zu wechseln. Catherine ist ebenfalls sehr schnell. Ich glaube, sie ist weltweit die Filmschauspielerin, die am schnellsten spricht! (lacht schallend) Oft passiert es ihr, daß sie beim Nachsynchronisieren ihrer Szenen nicht mehr mithalten kann!

Romy ging vollständig in ihren Rollen, in den Gefühlen ihrer Figuren auf. Nicht, daß dies für die anderen beiden nicht auch gälte! Aber sie legte derart viel in die Szenen hinein, wenn man auf sie reagierte, ließ man sich von der Macht der Gefühle mitreißen. In einem unserer Filme mußte ich sie in den Arm nehmen, und sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter. Ich konnte nur ihre Haare, nicht aber ihr Gesicht sehen. Eine sehr lange Szene, die in einer Großaufnahme gedreht wurde. Nach einigen Augenblicken spürte ich plötzlich, wie ihr eine Träne auf meine Hand fiel. Das überraschte mich völlig, das war ein Augenblick... Ich mußte mich einfach nur von ihren Gefühlen tragen lassen, um die Szene durchzuspielen.

Sie sehen, die Schauspielerei ist eigentlich ganz einfach.

Eine Partnerin, mit der Sie leider nur einmal zusammenspielten, war Simone Signoret in „Etoile du nord“.

Simone war eine einzigartige Schauspielerin. Ihre Leinwandpräsenz ließ sich vielleicht am ehesten mit der Gabins vergleichen. Regisseure, die mit beiden gearbeitet haben, wiesen mich darauf hin. Wenn man mit ihr bei einer Aufnahme zusammenspielte oder ihr zusah, fand man ihre Leistung angemessen: gut, aber nicht herausragend. Sah man sich die Muster an, war man überrascht: „Hm, sie ist außergewöhnlich.“ Und sah man endlich den fertiggeschnittenen Film, stellte man fest: „Sie ist genial!“ Das war eigenartig, denn während der Dreharbeiten war davon nichts zu spüren. Sie besaß eine Präsenz, die erst die Kamera vollständig offenbaren konnte. Nicht, daß das, was sie vor der Kamera machte, nicht gut gewesen wäre. Aber die Kamera verherrlichte es geradezu.

Sie war ein wenig wie die klassischen Hollywood-Darsteller, die Virtuosen des „underacting“: Tracy, Mitchum und andere?

(packt eine neue Zigarre aus) Ja, vielleicht. Für mich ist eines der großen Mysterien des Kinos ein Name, den Sie dieser Liste noch hinzufügen müssen: Gary Cooper. Ich bewundere ihn. Schauen Sie sich ihn auf der Leinwand an: Er scheint nichts zu tun. Er verkörpert Großbürger, Bauern, Cowboys, Architekten und Politiker. Er scheint immer derselbe zu sein. Und ist es doch nicht. Ich würde gern wissen, wie er das macht. Ich habe keine Ahnung, und dabei arbeite ich im gleichen Metier wie er! Das ist das Wunder, das Mysterium des Spielens.

Wie ist Ihre Haltung zum französischen Starsystem? Was halten Sie davon, wenn ein Produzent sich ausrechnet: Wir stecken Noiret, Depardieu, Deneuve und Sophie Marceau in einen Film, und dann muß es mit dem Teufel zugehen, wenn das kein guter Film wird?

(lacht) Ich selbst habe natürlich keinen Grund, darüber zu klagen! Aber es stimmt schon, in Frankreich herrschte lange Zeit der Glaube, drei, vier große Namen im Vorspann würden genügen, und dann sei der Film fertig. Auf das Drehbuch oder die Inszenierung legte man nicht viel Wert. Das hat sich allerdings geändert: Die Stars garantieren längst nicht mehr volle Kinos. Natürlich ist ein Star immer noch ein Plus für einen Film: unter dem Aspekt der Publicity oder auch, weil Fernsehsender mehr Geld zahlen beim Ankauf des Films. Es gibt da also eine gewisse Notwendigkeit. Aber es gibt kaum noch jemanden, der automatisch die Kassen füllt. Ausgenommen vielleicht Gérard Depardieu. Verstehen Sie mich bitte richtig: Ich habe nichts gegen den Begriff oder die Institution des Stars. Seit ich anfing, das Kino zu lieben, seit ich anfing, vom Schauspielerberuf zu träumen — damals freilich hatte ich eine Bühnenkarriere vor Augen —, war ich von Stars fasziniert. Leute wie Gary Cooper haben mich inspiriert.

Demgegenüber beweist Ihre Filmographie aber auch eine Vorliebe für Ensemblefilme: Ich denke zum Beispiel an „Il deserto dei Tartari“, „Un taxi mauve“. Diese Filme werden von Charakterdarstellern getragen, weniger von Starpersönlichkeiten. „Uranus“ zählt natürlich auch dazu.

Es sind „orchestrale“ Filme. Es macht einfach viel mehr Spaß zu spielen, wenn man zu mehreren ist. (lacht) Ensemblefilme sehe ich auch selbst sehr gern. Da kann ich meine Aufmerksamkeit zwischen vier, fünf, sechs Figuren wandern lassen. Und um es ganz trivial zu sagen: man trägt auch nicht die ganze Verantwortung allein auf seinen Schultern. Man teilt die Szenen eben einfach untereinander auf. Ein Komfort, der mir nicht unangenehm ist.

Was für ein Gefühl war es für Sie, in Hollywood-Filmen mitzuspielen? Delphine Seyrig hat mir einmal gesagt, für französische Schauspieler sei das immer ein wenig wie eine Papstaudienz.

(lacht vergnügt) Das ist natürlich wie die Erfüllung eines Kindheitstraumes. Auch wenn man das französische Vor- und Nachkriegskino mag — Hollywood, das ist wirklich wie der Vatikan, das Herz des Kinos. Als das Angebot von Hitchcock kam, in „Topaz“ mitzuspielen, dachte ich, es ist ein Märchen.

Als Sie 1968 mit Hitchcock drehten, fanden Sie da seinen Ruf bestätigt, er möge keine Schauspieler?

Ja, man sagte ihm nach, er sei unnahbar zu Schauspielern. Tatsächlich war er jedoch zu allen französischen Schauspielern, die in „Topaz“ mitspielten, überaus liebenswürdig und aufmerksam. Ich glaube, er mochte nur einfach keine Schauspieler, die ihm Fragen stellten. Und das war mir recht. Er hatte die Schauspieler aus ganz bestimmten Gründen ausgewählt und verlangte lediglich, daß sie ihr Metier ausübten. Er hatte seine Kamera ohnehin in einer ganz bestimmten Weise postiert, so daß wir nur unseren Text sprechen mußten, um den von ihm gewünschten Effekt auf der Leinwand zu erzielen. Das war eine sehr behagliche Arbeitsweise. Und man amüsierte sich sehr!

Ich spielte einen französischen Funktionär, der für die Russen arbeitet. Eines Morgens hatte ich eine Szene, in der mich ein Journalist von 'Le Canard Enchainé‘ in meinem Büro aufsucht, um mich zu interviewen. Der Journalist verdächtigt mich, ein Spion zu sein, und setzt mir mit seinen hartnäckigen und hinterlistigen Fragen zu. Im Drehbuch stand, daß ich an einem bestimmten Punkt des Drehbuches die Schreibtischschublade öffnen, den Journalisten und dann das Innere der Schublade anschauen und sie dann wieder schließen sollte. Am Abend vorher las ich die Szene und lernte meinen Text. Dann stockte ich plötzlich beim Lesen: Was ist in der verdammten Schublade? Die Frage verfolgte mich den ganzen Abend über, und das Drehbuch gab mir natürlich keine Antwort darauf. Morgens, auf dem Weg zum Drehort, hatte ich meinen Gleichmut wiedergefunden: Das war halt eine typische Hitchcock-Idee — besser, ihn nicht danach zu fragen. Gut, wir drehen: Ich öffne die Schublade, sehe den Journalisten an, schaue dann ganz lange Zeit in das Innere der Schublade und schließe sie wieder zu. Wir spielen die Szene weiter bis zum Ende. Dann ruft Hitchcock: „Cut!“ und blickt mich zufrieden an. (Noiret imitiert Hitchcocks gelangweilt-zustimmenden Gesichtsausdruck)

Etwa zur gleichen Zeit drehten Sie einen weiteren Film mit einem Hollywood-Altmeister: „Justine“ unter der Regie von George Cukor. Der war vor allem als Schauspieler- Regisseur berühmt.

Er war natürlich das Gegenteil von Hitchcock. Er wollte unaufhörlich über die Szenen, die Figur, den ganzen Film sprechen. Bei den Proben spielte er dann auch noch alles vor, bis hin zur letzten Intonation. Es war grauenvoll! Aber: Sobald die Szene gedreht wurde, ließ er die Schauspieler machen, was sie wollten. Ich glaube, all die Proben, das machte er nur für sich selbst. Den Schauspielern ließ er die Freiheit, ihrer eigenen Interpretation zu folgen. Außerdem spielte er sehr schlecht. (lächelt)

In den letzten Jahren spielten Sie immer häufiger in italienischen Filmen, zuletzt in „Cinema Paradiso“. Liegt das an den Drehbüchern und Regisseuren, oder besitzen Sie auch eine besondere Affinität zum italienischen Kino insgesamt?

Das hat sich zuerst ein wenig zufällig entwickelt, und zwar nach „Das große Fressen“ von Marco Ferreri. Der war in Italien ein ebensolcher Erfolg wie in Frankreich, und plötzlich bekam ich von dort sehr viele Angebote. Das italienische Kino der fünfziger und sechziger Jahre schätze ich ganz besonders. Und ich hatte das Glück, in Filmen von Monicelli, Rosi und Ferreri mitzuspielen. Es ist für mich eine große Bereicherung, nicht nur in einem Land zu arbeiten. Dabei profitiere ich von einer sehr schlechten Angewohnheit der Italiener: der Nachsynchronisation. Dort wird kaum mit Originalton gearbeitet. Deshalb gehe ich als italienischer Schauspieler durch. Inzwischen hat man mich dort als Teil des Filmgeschäftes akzeptiert, nicht nur innerhalb der Branche, sondern auch beim Publikum.

Bei aller Variationslust ist mir in Ihrem Oeuvre jedoch eine Linie aufgefallen, der sie kontinuierlich folgen: Sehr häufig spielen Sie Figuren in Machtpositionen.

Ich glaube, das liegt einfach an meiner körperlichen Erscheinung. Man gibt mir diese Rollen, weil ich einsfünfundachtzig groß bin und hundert Kilo wiege. So eine Statur ist einfach geeignet, im Kino Macht zu repräsentieren. Natürlich gibt es auch viele Menschen, die klein sind und mächtig. Aber im Kino teilt sich so etwas anders mit. Diese Rollen zu spielen, ist natürlich ein großes Vergnügen. Das ist, als würde man sich einen Traum erfüllen, den alle Welt insgeheim träumt. Besonders übrigens die Journalisten. Warum verkörpern beispielsweise Schauspieler so gern Polizisten? Weil Polizisten über dem Gesetz stehen. Weil sie im Kino keiner Norm gehorchen und tun können, was sie wollen. Ein Polizist holt seine Marke hervor und sagt: „Monsieur, nun rühren Sie sich mal nicht von der Stelle!“ Und alle gehorchen. Das eröffnet eine ungeheure Freiheit des Spielens: Es gibt 250 Arten, einen Polizisten zu spielen. Das einzige, was sie alle gemeinsam haben, ist die Macht.

Machtfiguren zu spielen, bereitet mir großes Vergnügen. Dabei hasse ich persönlich die Macht: Ich wandle nicht auf ihren Korridoren. Faszinieren tut sie mich schon, aber nur auf der Leinwand. Es ist wirklich der physische Aspekt, der die Leute dazu bringt, mich in diesen Rollen zu besetzen. Mein Freund Jean Rochefort sagte einmal: „Wenn Noiret auf der Leinwand erscheint, hat man immer den Eindruck, daß mindestens hundert Hektar Landbesitz hinter ihm stehen!“