Ein Querdenker im Stalinismus

Stefan Kiesielewski, das „Enfant terrible“ der polnischen Opposition, ist tot  ■ Von Klaus Bachmann

Warschau (taz) — Die Kommentatoren sprachen von einem „schwarzen Tag für Polens Kultur“, als am vergangenen Freitag bekannt wurde, Stefan Kiesielewski sei in einem Warschauer Krankenhaus gestorben. Erst wenige Tage zuvor war seine jüngste Komposition in Warschau uraufgeführt worden. Doch Kiesielewski ist in Polen nicht als Komponist bekannt geworden, sondern als schreibender Querdenker — und das schon seit Jahrzehnten.

Angefangen hat er als Musikkritiker in der polnischen Zwischenkriegsrepublik. Als der Krieg ausbrach, engagierte er sich in der „Untergrund- Musikbewegung“. Polens Regierung verlegte ihren Sitz infolge der Invasion durch Hitlerdeutschland nach London, unterhielt aber zahllose Delegaturen im besetzten Land, darunter auch eine für Kultur, in der Kiesielewski arbeitete.

Als der Krieg zu Ende ging, publizierte er im liberalen katholischen Krakauer Wochenblatt 'Tygodnik Powszechny‘, das fast während der ganzen Zeit der kommunistischen Herrschaft die einzige legale oppositionelle Tribüne in Polen blieb. Während des Tauwetters von 1956, als Parteichef Gomulka die Verständigung mit der Kirche suchte und diese zum ersten und letzten Mal in der Geschichte der Volksrepublik zur Teilnahme an den Wahlen aufrief, wurde Kiesielewski sogar Abgeordneter.

Die kleine Abgeordnetengruppe Znak, gebildet aus angesehenen katholischen Publizisten, die das Vertrauen der Kirche genossen, blieb bis in die siebziger Jahre hinein im Parlament. 1968 protestierte sie mit einer Interpellation gegen die Unterdrückung des Geisteslebens und der universitären Gegenkultur, die von der Staatsmacht mit Polizeiknüppeln und einer antisemitischen Kampagne niedergehalten wurde.

Nicht nur als Abgeordneter hatte Kiesielewski Einblick in die Welt der Regierenden: Seine Wohnung lag auch in einem Block in der Nähe von Ministerrat und Außenministerium, in dem zahllose Minister, Parteibonzen und hohe Beamte verkehrten und wohnten.

Dem Leben in der späten Gomulka-Zeit, die geprägt war von antisemitischen Hetzkampagnen sowie völliger Intoleranz und Erstarrung im kulturellen Leben, widmete Kiesielewski eine Erzählung, die er 1967 unter dem Pseudonym „Tomasz Stalinski“ veröffentlichte und die mehrere hohe Parteigrößen der PVAP, darunter Gomulka persönlich, in unzweideutigen Anspielungen aufs Korn nahm. Das Buch, das unter dem Titel Von oben betrachtet in einem Pariser Exilverlag erschien, war der erste Versuch, Polens Wirklichkeit aus der Sicht der Regierenden, aber für die Regierten zu schreiben. Kiesielewski gab erst 1980 bekannt, daß er Tomasz Stalinski war.

Selbst seine politischen Gegner gaben stets zu, daß Kiesielewski ein unabhängiger Geist sei. Mit Ausnahme seiner Tätigkeit im Parlament, die in den 70er Jahren endete, hielt sich Kiesielewski sowohl von den Gruppierungen des Machtapparats als auch der Opposition fern. Er blieb ein Querdenker und Einzelgänger, der trotzdem von beiden Seiten respektiert wurde. 1988, als zwei große Streikwellen Polens Kommunisten an den Runden Tisch zwangen, erklärte er die Gewerkschaft Solidarität für tot, sie habe ihre politische Bedeutung verloren.

Zu Zeiten, als die Köpfe der Opposition noch über einen dritten Weg diskutierten, propagierte er den Kapitalismus. Am Runden Tisch nahm er ebensowenig Platz, wie er sich als Parlamentskandidat für Solidarność 1989 aufstellen ließ. An Walesas Bürgerkomitee nahm er hauptsächlich teil, um provozierende Thesen loszuwerden.

Als sich die meisten Intellektuellen 1990 von Walesa abwandten, stellte er sich auf seine Seite. Seine berühmten, inzwischen in Buchform herausgegebenen Feuilletons, die vor allem auf überraschenden Einfällen und weniger auf einem kohärenten Weltbild beruhten, standen oft in völligem Gegensatz zur Redaktionslinie des 'Tygdonik Powszechny‘, in dem er sie drucken ließ.

Neben all den intellektuellen Provokationen, die er unter dem Kürzel „Kiesiel“ (poln.: Grütze) vom Stapel ließ, ging völlig verloren, daß er eigentlich Komponist und Musiker war. Sein Sohn war der Wacek des weit über Polen hinaus bekannten Klavierduos „Marek und Wacek“; er starb vor vier Jahren bei einem Autounfall. Kiesielewski selbst kam in den letzten Jahren kaum noch zum Komponieren oder Klavierspielen. Er starb im Alter von 80 Jahren. Klaus Bachmann