: Autonomer Sonntagsausflug nach Hoyerswerda
Hauptsächlich autonome Gruppen demonstrierten vor Ort gegen Rassismus/ Der Bundesgrenzschutz provozierte etliche Zusammenstöße/ Die Bewohner von Hoyerswerda staunen über ganz unterschiedliche deutsche Kulturen ■ Von Jürgen Gottschlich
Hoyerswerda (taz) — „Was ist los? Warum geht es nicht weiter?“ Langsam wird die Menge ungehalten, doch noch überwiegt die Verwunderung vor dem Zorn, ausgerechnet hier aufgehalten zu werden. Hier, das ist die in der letzten Woche zu trauriger Berühmtheit gelangte Thomas-Müntzer-Straße in der nordsächsischen Stadt Hoyerswerda — dem Ort, an dem es erstmals im neuen Deutschland Rassisten gelang, Flüchtlinge gewaltsam zu vertreiben. Das die Polizei in Hoyerswerda nicht in der Lage und die des Bundes nicht gewillt war, die Angriffe der Fremdenhasser auf das Flüchtlingsheim zu unterbinden, jetzt aber Bundesgrenzschutztruppen (BGS) einer Demonstration gegen eben diesen Fremdenhaß den Durchzug durch die Müntzer-Straße verwehren will, ist der Hauptgrund für den aufkommenden Zorn.
Eine halbe Stunde schon verharren nun drei- bis viertausend Demonstranten aus dem gesamten Bundesgebiet vor der Polizeikette, während die Demonstrationsleitung mit der Polizeieinsatzleitung verhandelt. Formal führt der Polizeichef von Hoyerswerda das Kommando, sind die BGS-Truppen ihm unterstellt. Doch deren Chefs denken gar nicht daran, sich den Anweisungen des Polizei-Ossis zu fügen. Der BGS-Kommandeur besteht darauf, das Vermumungsverbot durchzusetzen und sämtliche Demonstrationsteilnehmer in der engen Müntzer-Straße durch eine Polizeisperre zu schleusen, wo sie nach Waffen durchsucht werden sollen. Eine gezielte Provokation, wie der demonstrationserfahrene BGS-Kommandeur sehr wohl weiß. Während der Polizeichef von Hoyerswerda offenbar noch Schwierigkeiten hat, auf ein passendes Raster aus seinen eigenen Erfahrungen zurückzugreifen, ist für den BGS alles klar: Vor ihnen stehen 3.000 „Chaoten“ aus der alten Bundesrepublik, die man doch seit Jahren kennt und die, egal wofür sie angeblich Demonstrieren, „tatsächlich doch nur Putz machen wollen“. Doch während die Bundespolizei — die ja nun die Vertreibung der Flüchtlinge ganz und gar nicht verhinderte — wie im Pawlowschen Beißreflex reagiert, steigen die Chaoten aus dem Klischee aus. Statt zur offenen Straßenschlacht überzugehen, kommt von der Demo-Leitung die Aufforderung zum Rückzug. „Wir wollen hier nicht die Stadt Hoyerswerda angreifen, sondern denjenigen Bürgern, die mit den rassistischen Angriffen der letzten Tage nicht einverstanden sind, zeigen, daß sie nicht allein sind. Wir wollen den Leuten Mut machen und keine Auseinandersetzung mit der Polizei.“ Tatsächlich haben die Appelle vom Lautsprecherwagen Erfolg. 3.000 Leute, überwiegend aus der autonomen Szene, drehen in der engen Straße um und marschieren zurück. Bereits ausgegrabene Pflastersteine bleiben liegen — die Eskalation findet nicht statt. Ziel der Demonstration ist die Albert-Schweitzer-Straße am anderen Ende des endlosen Neubauviertels. Dort wohnen die letzten Nichtdeutschen in der Stadt, keine Flüchtlinge sondern Arbeitsmigranten aus Vietnam und Mosambik, die als „Gastarbeiter“ ins Land geholt worden waren. Doch die Führung des BGS will es heute in Hoyerswerda offenbar wissen. Wie zwischen Hase und Igel sind sie schon wieder da. Die Straße ist erneut gesperrt und diesmal ist die Empörung kaum noch zu bremsen. Der BGS verkündet, dies sei eine verbotene Versammlung, weil die Demonstranten die genehmigte Route verlassen haben. Deshalb werde die Straße nun per Wasserwerfer geräumt. Jetzt fliegen die ersten Steine, wird mit Leuchtraketen in die Luft geschossen. In dieser Situation trifft es auch einen Kollegen vom ZDF, dem wütende Autonome gewaltsam die Kamera entreißen. Doch die Demonstrationsleitung setzt erneut auf Deeskalation und Verhandlungen. Schritt für Schritt zieht der Zug sich zurück.
In den folgenden anderthalb Stunden kommt der Sinn der Demonstration in Hoyerswerda erstmals zum tragen. Der scheinbar so geschlossenen Block der Anwohner differenziert sich, ein erster Dialog beginnt. Jubelnd werden Getränkespenden aus dem anliegenden Wohnblock zur Kenntnis genommen. Wenn auch sehr spärlich, kommen nach und nach einige Bürger Hoyerswerdas von der einen Seite der Polizeikette auf die andere — wütende Kommentare der zurückbleibenden in Kauf nehmend. So sind es denn auch Bewohner der Stadt, die letztlich das endlose Hin und Her zwischen Polizeiführung und Demonstrationsleitung erfolgreich beenden. Couragiert bietet ein älterer evangelischer Pfarrer dem Einsatzleiter an, zusammen mit einigen Kollegen und anderen Einwohnern der Stadt, an der Spitze des Zuges zu marschieren und dadurch Zusammenstöße mit der Polizei zu verhindern. Es bildet sich eine Kette, kommt „das Andere“ Hoyerswerda zum Vorschein und bewegt diesmal den BGS zu Rückzug. Um 17 Uhr kann die für 14 Uhr vorgesehene Demonstration dann tatsächlich beginnen. Zwar kommt es nach Einbruch der Dunkelheit am Rande der Abschlußkundgebung erneut zu Zusammenstößen, doch die große Straßenschlacht, die einige Fernsehbilder suggerierten, fand nicht statt. Für Hoyerswerda war es dagegen „ganz gut zu erfahren“, wie einer der mitlaufenden Anwohner meinte, „das auch zwischen den Deutschen ganz unterschiedliche Kulturen existieren“.
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