Tour d'Europe

■ Massenparteien ohne Idee

Starke Parteien können Westeuropas Sozialdemokraten immer noch aufbieten — zumindest, wenn es um Mitgliederzahlen geht. Da kann die bundesdeutsche SPD mit satten 920.000 wuchern, die Labour Party bietet nach eigenen Statistiken 6 Millionen auf, die französischen Sozialisten behaupten, 250.000 Parteigänger zu haben, und im dünnbesiedelten Schweden glänzen die Sozialdemokraten mit mehreren Millionen Genossen. Besonders aussagekräftig sind solche Statistiken jedoch nicht, zumal in Schweden und Großbritannien, wo die meisten Sozialdemokraten bis in die jüngste Vergangenheit durch einen rein bürokratischen Akt zu ihrer Parteimitgliedschaft kamen: Sie traten einer Gewerkschaft bei und wurden automatisch auch der Partei einverleibt. Aus anderen Gründen sind die französischen Daten mit Vorsicht zu genießen, dort zählt die Partei ihre Gefolgschaft nach der Höhe der insgesamt eingezahlten Mitgliedsbeiträge. So mancher Ortsverband zahlt da gerne ein paar Francs mehr, um sich zusätzliche Delegiertensitze auf den entscheidenden Parteitagen zu sichern.

Weniger dick können die europäischen Sozialdemokraten mit ihrem Erfolg beim Wahlvolk auftragen: Bei den schwedischen Reichstagswahlen erlitten sie gerade ihre schwerste Niederlage seit sechzig Jahren. Auch in den Nachbarländern Norwegen und Finnland befinden sich die sozialdemokratischen Parteien im Tief. Nur dank der Zersplitterung der konservativen Parteien können sie in Norwegen weiterregieren, und nur die Stärke der Kommunisten ermöglicht ihnen in Finnland, immer noch den Präsidenten zu stellen. In Dänemark, wo die Sozialdemokraten seit Jahren mitregieren, scheint die Partei sich langsam von ihrem Streit über die Pershing-Stationierung zu erholen.

In Großbritannien, Frankreich, Portugal und der Türkei zittern die Sozialdemokraten vor den kommenden Wahlen. Auf der Insel, wo irgendwann zwischen diesem Herbst und dem kommenden Juli gewählt wird, schafft die Labour Party es nur gelegentlich, bei Meinungsumfragen ein paar Prozentpunkte vor die Konservativen zu kommen. In Frankreich, wo im nächsten Jahr Regionalwahlen anstehen, hat weder die Übergabe der Regierungsgeschäfte an Edith Cresson noch die zunehmend ausländerfeindliche Rhetorik der Sozialisten das Image der Partei aufgebessert. Erst Ende September erlitt eines ihrer prominenten Mitglieder, der ehemalige Gesundheitsminister Claude Evin, bei Nachwahlen im westfranzösischen Saint-Nazaire Stimmenverluste in Höhe von 17 Prozent. Nur ganz knapp (50,57 Prozent) schaffte er die Hürde zur Nationalversammlung. In Portugal, wo am Wochenende gewählt wird, rechnen die oppositionellen Sozialisten mit Stimmenzugewinnen. Fall möglich, wollen sie mit den stramm stalinistischen Kommunisten eine Koalition bilden. Ob sie jedoch das Rennen gegen die (konservative) regierende sozialliberale Partei machen, ist höchst fraglich. Bei den türkischen Wahlen am 20. Oktober schwächen sich zwei miteinander konkurrierende sozialdemokratische Parteien, die SHP und die CHP. Die Kandidatur der dritten sozialdemokratischen Partei, der kurdischen HEP, wurde von den Behörden nicht zugelassen. Ganz vorn sitzen Sozialdemokraten im wenig einflußreichen Europaparlament: Dort bilden Sozialisten die stärkste Fraktion. dora