Die Euro-Fraktion bellt, sie beißt aber nicht

Die Sozialdemokraten im Europaparlament üben sich in Rhetorik/ Sozialistisch aufgeklärter Streit um Sachfragen/ Zentrale Entscheidungen fallen hinter den Kulissen/ Absprachen zwischen Parteizentralen, Mitgliedsregierungen und Lobbyisten  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Es gibt im Grunde nichts, für das sie sich nicht zuständig fühlen. Mal beschäftigen sie sich mit der Ausrufung des gegenwärtigen Jahrzehnts zur „Dekade des Schutzes und der Vermehrung des Grüns in Europa – als einzigem Mittel, die Menschen in den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts vor dem Erstickungstod zu bewahren“.

Ein anderes Mal sehen sie die „Notwendigkeit, Maßnahmen zum Schutz junger Männer in Griechenland zu ergreifen, die während ihres Wehrdienstes in den Selbstmord getrieben werden“. Trotzdem haben die Sozialisten im Europaparlament ein Problem: Sie leiden an der Mißachtung, die ihnen und ihrer Institution entgegengebracht wird. Denn nur zu gerne verspotten Regierungen und die europäische Öffentlichkeit das Hohe Haus als ebenso unbedeutenden wie teuren Euro-Zirkus, in dem ein Haufen Europhiler Demokratie spielt.

In ihrer Betroffenheit unterscheiden sie sich zwar grundsätzlich nicht von ihren KollegInnen aus den anderen zehn Fraktionen — für die GenossInnen ist die Häme allerdings besonders hart, versuchen sie doch als mit Abstand größte Fraktion, den Ton im europäischen Demokratietempel anzugeben. Von den insgesamt 518 Abgeordneten stellen sie 180. Zusammen mit der anderen großen Fraktion, den Christdemokraten, die über 121 Sitze verfügen, teilen sie sich fast alle wichtigen Ämter— sei es in der Verwaltung, in den Ausschüssen oder in der politischen Führung des Parlaments. Präsident ist bis Ende des Jahres noch der spanischen Sozialist und Gewerkschaftschef Enrique Baron Crespo. Dessen Wiederwahl ist allerdings fraglich.

Wahrscheinlicher ist, daß der CDU-Politiker und Vorsitzende der christdemokratischen Fraktion, Egon Klepsch, das Rennen macht: Schließlich halten selbst viele seiner Genossen ihren Baron für ungeeignet, die Interessen des Parlaments gegenüber den beiden anderen, mächtigeren EG-Institutionen, dem Gesetze erlassenden Ministerrat und der Gesetze vorbereitenden EG- Kommission, durchzusetzen. Seit Jahren schon drängen die Europa- Abgeordneten unter lautstarker Führung einiger sozialdemokratischer Politiker darauf, nicht länger nur als Statisten im Europaspiel verheizt zu werden. In dieser Auseinandersetzung hielt sich Baron Crespo bislang vornehm im Hintergrund. Seine Parlamentarier durften zwar hin und wieder bellen, gebissen wurde aber nicht.

Diese Haltung hat Geschichte: Auch im Falle der Sozialcharta und der Umweltagentur spuckten die Sozialisten große Töne, um dann plötzlich das Feld der EG-Behörde und dem Ministerrat zu überlassen. Trotz lautstarker Drohungen bis hin zur Entlassung der EG-Kommission und Blockade der Gelder verabschiedeten die EG-Regierungschefs 1989 nur eine nicht bindende Sozialcharta, die jetzt durch ein sogenanntes Aktionsprogramm aufgefüllt werden soll. Und auch die Umweltagentur existiert immer noch nur auf dem Papier.

Die Liste ist beliebig verlängerbar: Ob bei Ökosteuern oder Gesetzen zur Gentechnologie, jedesmal, wenn es Spitz auf Knopf kommt, ziehen die Genossen den Schwanz ein — sei es auf Geheiß der heimatlichen Parteizentrale oder aus Rücksicht auf ihre in einzelnen Mitgliedsländern zu Amt und Würde gekommenen Kollegen.

Daß etwa Frankreichs Mitterrand immer noch die Einrichtung der letztes Jahr beschlossenen Umweltagentur blockiert, nur um ein Pfand im europäischen Hauptstadtstreit Straßburg oder Brüssel in der Hand zu halten, wird zwar hinter vorgehaltener Hand eingestanden, offene Kritik ist unter Genossen jedoch nicht opportun.

Auf diese Weise vermeiden sie immerhin, das selbe Schicksal zu erleiden wie die Grünen, die mit der ihnen innewohnenden Lust zur Selbstzerfleischung — wenn überhaupt — nur einzeln handlungsfähig sind. Diese Tendenz verhindern hilft auch der mächtige Fraktionsapparat, der die teilweise nicht unerheblichen politischen und nationalen Unterschiede beispielsweise zwischen den britischen Labours, den französischen Sozialisten oder den deutschen Sozialdemokraten verfahrenstechnisch überdeckt. Sozialistisch aufgeklärt wird vielmehr um Sachfragen gestritten; die zentralen Entscheidungen fallen dabei hinter den Kulissen, in Absprache zwischen den eigenen Parteizentralen und Mitgliedsregierungen — sowie der christdemokratischen Fraktion und einflußreichen Lobbyisten.