Das Wort zum Einheitstag

■ Der Casus belli * Ein Jahr danach: Wie zivil ist das vereinigte Deutschland?

Am vergangenen Sonntag war es wieder einmal komplett, das deutsche Genrebild: Vermummte Autonome, entschlossen, den Faschisten „keinen Fußbreit“ zu gewähren, unterstützt von der DKP Schleswig-Holstein, der PDS, Antifa-Gruppen und anderen „linken Kräften“ aus dem ganzen Bundesgebiet, marschierten kämpferisch durch die Plattenbauschneisen der sozialistischen Vergangenheit, während Honeckers Erben, neonazistische Skinheads und deutsche Kleinbürger, diesmal aus gebührender Distanz beobachteten, wie Polizei und Bundesgrenzschutz mit den „Chaoten“ fertig werden würden. Zur gleichen Zeit machten WählerInnen in Bremen und jugendliche Hooligans in Nordrhein-Westfalen unmißverständlich klar, daß sie den guten alten Rechtsradikalismus nicht kampflos den Ostdeutschen überlassen wollen. Die Parteien fühlten sich in ihren Hoffnungen und Befürchtungen bestätigt und lasteten jeweils der anderen Seite die Schuld am Erfolg der DVU an, derweil die Kommentatoren erschüttert an ihren Analysen feilen und die „Fachgruppen“ der großen Asylkoalition ab sofort beschleunigt an Vorschlägen zur Verkürzung der Anerkennungsverfahren werkeln.

Auseinandersetzung mit dem dumpf- deutschen Nationalismus

Inmitten dieser aufgeregten Geschäftigkeit mit den nach bewährtem Muster verteilten Rollen geht eine Tatsache völlig unter: ein Jahr nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten herrscht der demokratische Ernstfall. Die widerwärtigen, pogromartigen Vorfälle im sächsischen Hoyerswerda und die west- östlichen Nachahmer markieren den Casus belli der zivilen Gesellschaft. Was sich jetzt nicht zum Protest rührt, zur offensiven Auseinandersetzung mit dumpfdeutschem Nationalismus, Fremdenhaß und totalitärer Gesinnung hüben wie drüben, das kann in den Wind geschrieben werden.

Was tun heute diejenigen, die seit zwei Jahren auf Hunderten kostbarer Feuilletonseiten die Zivilcourage und den Freiheitsdrang der „deutschen Revolution“ vom Herbst 1989 feiern und der ewigen Frage nachspüren, ob, wann und unter welchen Umständen die Deutschen jemals eine richtige „Nation“ werden könnten? Kommt ihnen jetzt womöglich der Gedanke, daß diese Frage gegenüber jener zurücktritt, ob die Deutschen jemals eine demokratische, zivile Gesellschaft bilden können, in der keine staatliche Behörde mehr eine Stadt „ausländerfrei“ macht? Warum schweigt das sonst beredte Feuilleton der „Zeitung für Deutschland“? Wo bleiben die Aktionisten des „zivilen Ungehorsams“, die Talkshow-Intellektuellen und Verteidiger der Republik, die Bonvivants der urbanen Streit- und Metropolenkultur, die auf- und abgeklärten Ex-Linksradikalen jeder Provenienz — wo bleibt der demokratische „Bürgerblock“?

Gewalttätige „Asyldebatte“

Nichts wäre schlimmer, als das Terrain der gesellschaftlichen Auseinandersetzung denen zu überlassen, die — wie Volker Rühe — mit wenigen Worten das Feuer schüren, oder jenen, die mit möglichst vielen Molotowcocktails, Steinen und Eisenstangen versuchen, die Weimarer Saalschlachten zwischen SA und Rotfrontkämpferbund (mit „Märtyrern“ auf beiden Seiten) zu inszenieren, also die dümmste und anachronistische Form des politischen Konflikts zu dem Leitbild erheben, das sie vor unangenehmen Einsichten bewahrt. Gerade der Zusammenbruch des sozialistischen Machtblocks in der DDR und Osteuropa hat die historische Möglichkeit eröffnet, das noch aus dem 19.Jahrhundert stammende Lagerdenken endgültig zu überwinden. Seit den Umwälzungen von 1989, mehr noch in der Folge des gescheiterten Putsches in Moskau vom August dieses Jahres kann und muß sich das wache politische Bewußtsein auf dem freien Feld der Gesellschaft bewegen, so, wie sie ist.

Der Blendschutz vorgeblich geschichtsmächtiger Utopien und ideologischer Gewißheiten ist spätestens mit der Berliner Mauer gefallen. Konservative Publizisten haben diesen säkularen Desillusionierungsprozeß — vor allem seine intellektuellen Verzögerungen und Verschiebungen in Deutschland — wieder und wieder genüßlich beschrieben, während viele Linke ihn, verspätet oder nicht, eher schmerzvoll vollzogen haben. Die Bewährungsprobe aber für das neue postideologische zivile Selbstbewußtsein findet just dort statt, wo abermals Ideologien zu Steinzeitwaffen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zurechtgezimmert werden. Das gewalttätige und großenteils irrationale Klima der gegenwärtigen „Asyldebatte“, pünktlich zum ersten Feiertag der neuen „deutschen Einheit“, bietet nun auch den entschieden bürgerlichen Antiutopisten die dringende Gelegenheit, die demokratischen Tugenden des klaren und offenen Wortes, der Zivilcourage und des alle ideologischen Lagerreste übergreifenden persönlichen Engagements für den Rechtsstaat zu erproben. Philosophische Filibustereien über die logische Differenzierung zwischen moralischer Ablehnung und hermeneutischer Ursachenforschung der rassistischen Pogrome können nicht darüber hinwegtäuschen, daß auf der konservativen Seite des politischen Spektrums ein sublimer Populismus anzutreffen ist, für den die Wahlstimmen der Rechtsextremen und die Serie der Überfälle auf Ausländer, Asylbewerber, gar „deutschstämmige“ Aussiedler eine quasi objektive „Belastungsgrenze“ der Bevölkerung anzuzeigen scheinen. Dabei weiß jeder, daß es in der ehemaligen DDR vielerorts einen Ausländerhaß ganz ohne Ausländer gibt — genauso, wie in aller Welt Antisemitismus ohne Juden gedeiht. Die Vermischung von tatsächlichen Problemen mit voraufklärerischen Ressentiments ist das genaue Gegenteil jenes zivilen Bewußtseins, dessen große Zukunft im „neuen“ Deutschland vor Jahresfrist beschworen wurde.

Offene Rechnung der Deutschen

Wenn die aus Anlaß des einjährigen „Jubiläums“ gerade jetzt wieder zwischen Buchsbäumen und Buchdeckeln abgegebenen Bekenntnisse zu Demokratie und Rechtsstaat nicht leere Floskeln bleiben sollen, ist vor allem dreierlei nötig: Erstens müssen die demokratisch legitimierten Organe des Staates ihre Sanktionsdrohungen wahrmachen: Anschläge auf Asylbewerber- und Ausländerwohnheime sind keine Kavaliersdelikte, sondern werden mit Knast bestraft. (Daß die derart gefährdeten Orte nicht, wie jedes US-Konsulat, rund um die Uhr bewacht werden, ist ein Skandal für sich.) Zweitens muß die öffentliche Auseinandersetzung, so schwierig, kompliziert und langwierig sie ist, hic et nunc, jetzt vor Ort beginnen, auch wenn — oder: gerade weil — die gediegenen Formen des linksliberalen Diskurses dabei dem rauhen Wind der sozialen Wirklichkeit ausgesetzt werden. Drittens müssen die wirklichen Fragen der Migrationsbewegungen in und nach Europa — Stichwörter: Einwanderungsgesetz, Amt für Migration, Quoten und davon strikt getrennte, verbesserte Asylverfahren — offen diskutiert und vernünftig entschieden werden. Ein Blick nach Italien, Frankreich oder Schweden zeigt, daß der gegenwärtige Tumult kein „typisch deutsches Phänomen“ ist. Aber die Deutschen haben für dieses Jahrhundert noch eine Rechnung offen: zu beweisen, daß einmal nicht der Wahnsinn, sondern die Vernunft Methode hat. Reinhard Mohr