„Wir sind ein unvoreingenommenes Gericht“

Am Ende des Verfahrens gegen die RAF-Aussteigerin Silke Maier-Witt droht die Kollektivthese der Bundesanwaltschaft einzustürzen/ Zeugen bestätigen die Rolle der Angeklagten als Randfigur der Roten Armee Fraktion  ■ Aus Stammheim Erwin Single

„Ich habe immer nur das getan, was man mir im Verlauf der Aktion aufgetragen hatte. Ich habe mich in die Gruppe eingefügt, wie ich mich immer eingefügt hatte.“ Wenn Silke Maier-Witt im Stammheimer Prozeßbunker aus dem Innenleben der Guerilla berichtet, fallen solche Schlüsselsätze öfters. Ihre Aufgaben in der Illegalität, möchte die 41jährige RAF-Aussteigerin dem 2. Strafsenat des Stuttgarter Oberlandesgerichts glauben machen, seien meist ganz banale Dinge gewesen. So mietete sie Wohnungen an, beschaffte Fahrzeuge, bestückte Depots und verrichtete Einkaufsdienste; gelegentlich durfte sie die Umgebung eines potentiellen Opfers auskundschaften oder Bekennerschreiben eintüten. Mehr als solche „Zulieferdienste“ blieben für die „unsichere Kandidatin“, wie sie sich selbst nennt, nicht übrig. Mehr hatten ihr ihre Kampfgefährten nicht zugetraut, von den Aktionskommandos blieb sie ausgeschlossen. „Ich habe stets ja und viel zuwenig nein gesagt“, resümiert die Angeklagte.

Ihre Ankläger sind freilich anderer Meinung. Sie haben der RAF- Spätheimkehrerin die Beteiligung an drei Terrorkommandos zur Last gelegt: an der Entführung und Ermordung Schleyers im Herbst 1977, am mißglückten Attentat auf den früheren Nato-Oberkommandierenden Alexander Haig im Sommer 1979 und an einem Züricher Bankraub im November desselben Jahres. Lediglich den Vorwurf, an dem geplanten Raketenwerfer-Anschlag auf die Karlsruher Bundesanwaltschaft im August 1977 mitgewirkt zu haben, haben die BAW-Staatsanwälte im Laufe des vierwöchigen Verfahrens aus der Anklageschrift fallengelassen. Getreu dem Motto „mitgegangen, mitgehangen“ soll sie sich des fünffachen Mordes (Komplex Schleyer) und mehrfachen Mordversuchs (Komplex Haig) schuldig gemacht haben.

Nur eine Randfigur

Keine Frage, innerhalb der RAF gab Silke Maier-Witt nur eine Randfigur ab. Daß die heute 41jährige dort zu den „Zauderern“ zählte, steht auch für den Vorsitzenden Richter Friedrich Nagel außer Frage. Als eine jener labilen, politisch und ideologisch ungefestigten „Hamburger Tanten“ hat sie sich wie Susanne Albrecht und Sigrid Sternebeck der RAF-Hierarchie widerstandslos ein- und untergeordnet. Ihr sei nicht klar gewesen, wer was bei welcher Aktion machte, oft habe sie nicht mehr gewußt, als in den Zeitungen stand, gab die RAF- Aussteigerin vor Gericht an. Schon bald nach ihrem Abtauchen in die Illegalität wurde sie wegen ihrer passiven Haltung von der Gruppe heftig kritisiert. Als einige Gruppenmitglieder planten, die Wohnung eines US-Generals zu stürmen und dabei auf alles zu schießen, was sich in den Weg stellt, hatte dieses sinnlose „Blutbad“ ihren Widersruch erregt. Danach sei ihr immer wieder vorgeworfen worden, nicht voll hinter Zielen und Aktionen der RAF zu stehen.

Den Ton in der Gruppe gaben diejenigen an, die auf Aktionen drängten, ein gewisses „Draufgängertum“ an den Tag legten, wie Silke Maier- Witt sagt. Der Führungskreis um die RAF-Köpfe Brigitte Mohnhaupt, Stefan Wisniewski, Willi-Peter Stoll oder Christan Klar demonstrierte jene Entschlossenheit, die ihr und den übrigen späteren Aussteigern fehlte. Plastisch berichtet sie dem Gericht, wie sich die unterschiedlichen Gruppenstellungen ausdrückten: wer in welche konspirativen Wohnungen durfte, wer welche Telefonnummern besaß, wer die Aufenthaltsorte der anderen kannte, wer in welche Pläne eingeweiht war, wer an Gesprächen teilnehmen konnte und wer nicht, wer das Wort führte und wer nichts zu sagen hatte.

„Ich hätte es wissen müssen“

Als Richter Nagel in seiner väterlichen Art die Angeklagte einmal fragt, ob sie in den Tatplan zur Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer eingeweiht war und mit dessen Ermordung gerechnet habe, antwortet Silke Maier- Witt: „Ich hätte es wissen müssen, aber ich habe es nicht gewußt. Ich habe gedacht, daß Schleyer freigelassen werden würde, aber andere haben anders entschieden.“ Erst nach Mogadischu habe ihr gedämmert, daß das für Schleyer „das notwendige und unrühmliche Ende sein mußte“. Im Rahmen der Aktion „big money“ hatte Silke Maier-Witt einen Teil der Fahrstrecke Schleyers observiert und ein Doubletten-Kennzeichen beschafft. Nach der Entführung fungierte sie als Briefbotin für die RAF-Ultimaten.

Ihr Tatbeitrag zum fehlgeschlagenen Haig-Attentat war nicht viel größer: sie half, die Route des Nato-Generals auszukundschaften und durfte Werner Lotze beim Kauf des Flucht- Motorrads begleiten. Den Anschlag führten andere aus: Rolf Clemes Wagner zündete den Sprengsatz, Werner Lotze steuerte das Motorrad, und Sieglinde Hofmann wartete in der Rückzugswohnung. Eine Teilnahme an dem Kommando, auf die Silke Maier-Witt wie die übrigen unsicheren Kantonistinnen drängte, wurde ihr damals „sowieso nicht mehr zugetraut“, wie sie sagt. Für den Haig-Anschlag sei die Angeklagte „nicht mehr in Betracht“ gezogen worden, bestätigte ihre ehemalige WG-Mitbewohnerin und spätere Kampfgenossin Susanne Albrecht.

Bei den Zeugenvernehmungen dreht sich alles darum, „den Gruppenstatus der Frau Maier-Witt zu ergründen“, wie Richter Nagel es diplomatisch nennt. Immer wieder läßt sich der für Stammheimer Verhältnisse ungewohnt feinfühlige Vorsitzende über Gruppen- und Entscheidungsprozesse der RAF berichten und versucht, die Rolle der Angeklagten herauszuschälen. Der RAF- Aussteiger Peter Jürgen Boock bestätigt dem Gericht, Silke Maier- Witt habe nicht zum inneren Kreis der Gruppe gehört. Sie habe zwar den bewaffneten Kampf aufnehmen wollen, sei aber aus „moralischem Zwiespalt“ dazu nicht in der Lage gewesen, so Boock. Noch weiter geht Sigrid Sternebeck: Der Anspruch der Kollektivität, für viele ehemalige Sympathisanten ein Grund, sich der RAF anzuschließen, sei in Wirklichkeit nicht mehr als ein „Anspruch“ gewesen, hinter dem „nicht viel gesteckt“ habe. Abstimmungen habe es nie gegeben, aber auch keine direkten Weisungen gegen den eigenen Willen. Diktiert hätten letztendlich diejenigen RAF-Mitglieder, die mit konkreten Vorstellungen und Wissen eine exponierte Stellung einnahmen und sich besser durchsetzen konnten. Dazu habe Silke Maier- Witt aber nie gehört.

Das Ende der Kollektivthese

Wenn heute in Stammheim die Plädoyers gehalten werden, dürfte es die Bundesanwaltschaft (BAW) nicht leicht haben, ihren bisherigen Kurs zu halten. Unmißverständlich hatten die Ankläger demonstriert, daß sie weiter an der These festzuhalten gedenken, wonach RAF-Aktionen kollektiv ausgeheckt, gemeinsam geplant und anschließend arbeitsteilig ausgeführt werden und auf deren Grundlage jahrelang RAF-Mitglieder verurteilt wurden — zuletzt die RAF-Aussteiger und Kronzeugen Werner Lotze, Henning Beer und Susanne Albrecht. Unter dem Gewicht der Aussagen droht die heilige Staatsschutz-Fiktion vom „Kollektiv RAF“ endgültig in sich zusammenzubrechen. Wird zur Aufrechterhaltung der Kollektivschuld wieder einmal die Logik verworfen, bleibt der Angeklagten nur eine Hoffnung: der Kronzeugenrabatt. Doch Richter Nagel winkte bereits mit dem Zaunpfahl: „Wir sind ein unvoreingenommenes Gericht.“