Alle Arbeitsplatz-Besitzer sind Gewinner der Vereinigung

Doch ein Drittel der erwerbsfähigen Ostdeutschen wird ohne Arbeit und damit arm bleiben/ Wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt für Ost-Frauen  ■ Von Erwin Single

Ein Ende der Talsohle kann Heinrich Franke beim besten Willen nicht sehen. Monat für Monat muß der Chef der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit neue Hiobsbotschaften aus der Arbeitsmarktstatistik verkünden. Im Juli dieses Jahres überschritt die Arbeitslosenzahl im Osten erstmals die Millionengrenze. Jeder achte Arbeitnehmer ist arbeitslos, die Erwerbslosenquote liegt mit rund 12 Prozent doppelt so hoch wie im Westen. Hinzu kommen knapp 1,5 Millionen Kurzarbeiter; fast eine halbe Million befinden sich in Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, rund 600.000 wurden in den Vorruhestand geschickt.

Doch es kommt noch schlimmer: Für Franke ist das Tief auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt frühestens Mitte des nächsten Jahres erreicht. Allein in diesem Jahr, so hat die Berliner Treuhandanstalt bei den über 7.000 von ihr verwalteten Betrieben ermittelt, fallen dort 1,4 Millionen Arbeitsplätze weg. Und wie groß die Entlassungswellen etwa durch das Auslaufen der Kündigungsschutzabkommen in der Metallindustrie, der Warteschleife im öffentlichen Dienst oder der Kurzarbeiterregelung sein werden, vermag auch Franke nicht zu beziffern.

Das teuerste Konjunkturprogramm der Welt hat dem Arbeitsmarkt im Osten bislang wenig genutzt. Das Wirtschaftswunder mit den Milliarden aus Bonn läßt noch auf sich warten; Arbeitsplätze im Osten werden auf absehbare Zeit knapp bleiben. Nicht mehr als 7 Millionen werden es nach Prognosen des Instituts der Deutschen Wirtschaft sein. Rechnet man alles zusammen, haben bereits mehr als ein Drittel der Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern ihre Arbeit verloren.

Die Prognosen der führenden Wirtschaftsinstitute und der Deutschen Bank, die bisher Schönfärberei weitgehend vermieden haben, sind düster: sie gehen von durchschnittlich vier Millionen Menschen ohne Arbeit zum Jahresende aus. Doch auch der Arbeitsmarkt in den alten Ländern wird durch die Einheit belastet: Durch die Nachfrage aus dem Osten sind zwar rund eine halbe Million Arbeitsplätze im Westen entstanden; dem stehen aber genauso viele Zuwanderer und 400.000 Pendler aus dem Osten entgegen. Die Arbeitslosigkeit im Westen läge um 0,6 Prozent niedriger, gäbe es den Zustrom aus dem Osten nicht, hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung errechnet. Die Fähigkeit der westdeutschen Wirtschaft, den Arbeitskräftestrom zu absorbieren, ist an die Grenze gestoßen.

Hinter den nackten Arbeitsmarktzahlen aus dem Osten verbirgt sich eine wohl dauerhafte Massenarbeitslosigkeit. In der dort entstandenen Zweidrittelgesellschaft haben diejenigen von der Einheit profitiert, die noch oder wieder Arbeit haben. Die Reallöhne sind gestiegen; mit dem Gehalt läßt sich trotz Wegfalls der Grundbedarfssubventionen mehr konsumieren als zu Honeckers Zeiten. Gewinner sind auch die Rentner in der ehemaligen DDR: Die Vereinigung hat ihnen deutlich höhere Renten beschert. Auf der Verliererseite steht dagegen, wer nicht arbeiten darf: Da die Löhne niedrig waren, ist das Arbeitslosengeld mit durchschnittlich rund 700 D-Mark bei Männern und etwa 550 D-Mark bei Frauen knapp bemessen.

Zugleich wächst das Heer der Dauerarbeitslosen, die bald nur noch Arbeitlosenhilfe beziehen. Obwohl der Abbau nicht wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze in den neuen Ländern Männer und Frauen gleichermaßen trifft, liegt die Quote weiblicher Arbeitsloser deutlich höher als die der Männer. Der Grund: Nur wenige Frauen arbeiten als Pendlerinnen. Die Arbeitsmarktexperten rechnen damit, daß sich der Anteil der berufstätigen Frauen im Osten in den nächsten Jahren an den im Westen annähert. In der DDR waren 90 Prozent der Frauen beschäftigt, in der BRD gerade 50 Prozent. Verlierer der Vereinigung sind auch die ausländischen Arbeitnehmer: Durch den Verdrängungswettbewerb auf dem Ost-West-Arbeitsmarkt kippen sie meist hinten runter.

Die Arbeitsmarktpolitik in den neuen Bundesländern steht mit Kahlschlag und Massenarbeitslosigkeit in einzelnen Regionen vor zusätzlichen Problemen: In altindustriell geprägten Regionen wie Leipzig und Halle oder monostrukturierten Produktionsstandorten wie Bitterfeld (Chemie), Riesa (Stahl) oder Chemnitz (Textil) droht die soziale Katastrophe.