Das Stückchen Scham ist bald vorbei

■ Der "häßliche Deutsche" wird in Hoyerswerda verortet, um den "guten Deutschen" im Westen aus dem Hut zu zaubern

Das Stückchen Scham ist bald vorbei Der „häßliche Deutsche“ wird in Hoyerswerda verortet, um den „guten Deutschen“ im Westen aus dem Hut zu zaubern

EIN DEBATTENBEITRAG VON BERND SIEGLER

Bundesinnenminister Schäuble glaubte in der aktuellen Stunde des Bundestages, die am letzten Freitag zu Hoyerswerda stattfand, in die rhetorischen Fußstapfen des Bundespräsidenten treten zu müssen. Er empfinde die Ereignisse als einen „Anlaß ein ganzes Stück weit für Scham“. Also kein Anlaß aufzuschreien oder wütend zu werden, es reicht nur für ein Stückchen Scham. Das „andere Stück weit“, für das Schäuble glaubt Anlaß zu haben, ist Verständnis und damit Entlastung für die Täter und Claqueure: Man müsse die Sorgen und Ängste der Bürger ernst nehmen, daß „unser“ Land von Flüchtlingen überschwemmt werde, forderte der Innenminister im gleichen Atemzug. Täterentlastung hat in Deutschland Tradition.

In nahezu jedem Beitrag zur aktuellen Debatte wird auf die soziale Lage, auf Orientierungsverluste aufgrund des Individualisierungsdrucks der „modernen zivilen Gesellschaft“ und auf die Zerstörung „gewachsener“ sozialer Milieus als vermeintliche Ursachen für Rechtsextremismus rekurriert. Als in der alten Bundesrepublik die „Republikaner“ zweistellige Wahlergebnisse erzielten, war viel von „Modernisierungsverlierern“ die Rede. Jetzt, wo in den neuen Ländern Pogromstimmung herrscht, sollen es wieder Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot sein, die die Menschen nahezu naturwüchsig und blindwütig veranlassen, alles Andersaussehende, -denkende und -lebende zum Opfer auszuersehen.

Empirische Untersuchungen haben jedoch längst gezeigt, daß sich z.B. die REP-Wählerschaft eher aus denjenigen zusammensetzt, die Angst haben, ihren Wohlstand und ihre angestammten Privilegien zu verlieren, als aus denjenigen, die diese schon verloren haben. In der DDR war dies nicht anders. Jugendliche, die sich bereits Mitte der 80er Jahre in neonazistischen Gruppen zusammengeschlossen haben, waren in der Regel fleißige und zuverlässige Arbeiter und damit ordentliche Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft, eingebunden in staatstragende Organisationen wie die FDJ-Ordnungsgruppe. Ihnen war das autoritäre System der DDR zu lasch, ihr Deutschland zu klein, ihre Werte Disziplin, Ordnung und Sauberkeit waren auch die Werte des DDR-Sozialismus.

Neuerdings haben Politologen und Sozialpädagogen „wechselseitige Fremdheitsgefühle“ entdeckt. Ihnen geht es nicht mehr um rechtsextremistische Schläger, sondern um Jugendbanden, deutsche und türkische, Skins und Autonome, um angeblich nicht politisch motivierte, sinnlose Gewalt als „neues soziales Phänomen“. Was als neue Erkenntnis auf einem höheren Abstraktionsniveau verkauft wird, bleibt in Wirklichkeit auf der Ebene der Erscheinungsform stehen. Für die Ursachenforschung der rassistischen Übergriffe ist es jedoch unerläßlich, den politischen Hintergrund der Taten und der Täter mit zu betrachten, zumal sich die Experten einig sind, daß es sich gerade nicht um spontan geäußerte Gewalt handelt, die zufällig Opfer trifft, sondern um gut organisierte Überfälle. Bei einer solchen Herangehensweise in der Analyse erschienen die Täter wieder als handelnde Subjekte und nicht mehr nur als Opfer der Verhältnisse, die ihren Frust einfach irgendwo abreagieren müßten. Solche Erkenntnisse scheinen in Politik und großen Teilen der Wissenschaft nicht erwünscht zu sein.

Die SED ist im Osten schuld — wer ist es im Westen?

Die Verlogenheit der Diskussion um die Ursachen des Rechtsextremismus in der DDR beweist sich nicht nur in der durchgängigen Täterentlastung. Diejenigen, die keine Gelegenheit auslassen, der SED vorzuwerfen, den DDR-Bürgern den Kontakt mit Ausländern verwehrt zu haben, argumentieren im gleichen Atemzug, das deutsche Boot sei voll, und suggerieren, zuviel des Kontaktes könnte der „deutschen Volksseele“ Schaden zufügen. Keiner von denen, die heute so gerne den „hausgemachten Neofaschismus in der DDR“ anprangern, hat jemals zuvor die Verfaßtheit der BRD-Gesellschaft für den Rechtsextremismus im Westen verantwortlich gemacht.

Diejenigen, die kurz vor der Wiedervereinigung das Bild vom „häßlichen Deutschen“ lediglich in den Phantasien ewiggestriger linker Sektierer verortet hatten, glauben jetzt, die Adresse des häßlichen Deutschen in Hoyerswerda gefunden zu haben. Sie stellen das Beitrittsgebiet als „Problem der demokratischen Zivilisierung“ dar und wollen damit nur beweisen, daß der gute Deutsche im Westen angesiedelt ist. Das Ausbleiben des Aufschreis und der aktiven Solidarität mit den Betroffenen sowie das Bremer Wahlergebnis lassen die demokratische Zivilisierung des Westens jedoch als ideologische Seifenblase zerplatzen.

Zwei Drittel der Brandanschläge im Westen

Der Fingerzeig gen Osten entlarvt sich als billiger Versuch, den Westen zu entlasten und den Zusammenbruch des realen Sozialismus zu nutzen, um ihn als Inkarnation alles Bösen darzustellen. Rassistische Übergriffe sind kein ostdeutsches Problem, auch kein Problem der Wiedervereinigung. Von in diesem Jahr bisher 72 Brandanschlägen gegen Ausländer- und Flüchtlingsheime wurden 26 in Nordrhein-Westfalen und mehr als ein weiteres Drittel in den übrigen alten Bundesländern verübt. Wem ist schon bewußt, daß in den letzten drei Jahren auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik elf Menschen rassistischen Übergriffen zum Opfer gefallen sind?

Das soll die Zustände im Osten der Republik weder verharmlosen noch relativieren. Das nahezu kindliche Alter der Akteure, die Brutalität, die Pogromstimmung und der Volksfestcharakter stellen sicher eine neue Qualität dar. Doch dies läßt sich keineswegs mit einem Aggressionsstau aufgrund von vierzig Jahren autoritärer Verhältnisse in der DDR erklären. Wer Rechtsextremismus in Ost und West als strikt getrennte Phänomene betrachtet, tut dies nicht ohne Grund. Er scheut sich, gemeinsame Wurzeln zu suchen — wohl wissend, daß dies an die Grundfesten nicht nur der beiden alten Deutschländer, sondern vor allem des neuen Deutschlands gehen würde.

In beiden Staaten wurde z.B. die Entnazifizierung frühzeitig dem Sachzwang geopfert, möglichst schnell funktionierende Verwaltungen für den Wiederaufbau zu schaffen. Das Bemühen und der Wille der Gründungsväter der DDR, aus ihrer Republik einen Hort des Antifaschismus zu machen, bleibt davon unberührt. Solche Pläne waren jedoch schnell durchkreuzt. Die Regierung konnte sich „ihr Volk“ nicht aussuchen, der Kalte Krieg und die reale Bedrohungssituation der DDR durch den Westen schürten das Mißtrauen gegen die eigenen Bürger, ließen keine Atempause zur Aufarbeitung der Vergangenheit und forcierten repressive Strukturen. Alte Werte kamen zu neuen Ehren, Verdrängung stand auf der Tagesordnung.

Das Ergebnis: Im Westen fühlte man sich als ökonomischer, im Osten als moralisch-ideologischer Sieger. Aus Mitläufern und NSDAP-Funktionären wurden in der BRD Bundespräsidenten, Bundeskanzler und hochrangige Beamte, in der DDR wurden sie verdiente Kämpfer für den Aufbau der Sozialismus. Eine rein ökonomistische Faschismusdefinition lieferte in der DDR die Grundlage für diese Mutation, die Arbeiterklasse wurde pauschal zu antifaschistischen Widerstandskämpfern erklärt. In der DDR hatte man zwar im Gegensatz zum Westen die ökonomische Grundlage des Faschismus zerschlagen, das Denken der Menschen blieb davon jedoch unberührt, Mentalitätsbestände aus dem Nationalsozialismus konnten in West und Ost weiter existieren.

In DDR wie BRD kultiviert: der ordentliche Deutsche

Die Behandlung von Ausländern war in beiden Staaten entwürdigend: Isolierung und Ghettoisierung in der DDR, Ausländer trotz proletarischen Internationalismus als entrechtete, billige Arbeitskräfte und willkommene Sündenböcke für Versorgungsengpässe. In beiden Staaten arbeitete man vehement an der Herausbildung einer nationalen Identität. Der seinem Nachbarn überlegene, arbeitsame, ordentliche, anständige Deutsche wurde in West und Ost kultiviert. Gerade dieser kleinbürgerliche Mief ist es, in dem rassistische Einstellungen und Verhaltensmuster tagtäglich reproduziert werden — in Ost und West. In beiden Staaten war und ist Rassismus ein konstituierendes Moment der Gesellschaft. Identitätsfindung erfolgt überwiegend durch Aus- und Abgrenzung gegenüber einem negativ definierten anderen, dem Fremden.

Rassismus als Form, sich der Richtigkeit seiner eigenen Verhaltens- und Lebensweisen zu versichern, war und ist gängiges Sozialisationsmodell. Das politische Klima für rechtsextremistische Ideologie ist zudem ausgezeichnet. Themen wie Asyl-, Ausländer- und Drogenpolitik werden benutzt, um Ressentiments zu verstärken, Historikerstreit und die Gleichsetzung Stalins mit Hitler beschleunigen den Strich unter die Vergangenheit, das Geschrei von der neuen Bedrohung durch den islamischen Fundamentalismus und die Forderung nach einer eigenständigen „europäischen Identität“ schaffen neue Feindbilder. Die von vielen ins Feld geführten Demokratisierungseffekte durch die 68er Studentenbewegungen, die angeblich einen antifaschistischen Grundkonsens in der alten Bundesrepublik herbeigeführt haben sollen, sind längst vom Rollback dahingerafft worden.

Scharfe Antidis- kriminisierungsgesetze müssen her

Durch die Wiedervereinigung haben sich auch die rassistischen Tendenzen, verstärkt durch Träume von neuer deutscher Stärke und Dominanz, wiedervereinigt. Jetzt erschallt der Ruf um so lauter nach Einwanderungsquoten und nach einer neuen Mauer an der Oder. Flüchtlinge sollen, wenn überhaupt, nur in totaler Rechtsunsicherheit in „diesem unserem Land“ leben dürfen. Angesichts dieser verfestigten und sich weiter verfestigenden Einstellungen kommt man mit Konzepten der Sozialarbeit und -pädagogik nicht weit.

Scharfe Antidiskriminierungsgesetze müssen her, um Einwanderern den Status von politischen Subjekten zu geben. Es ist unerläßlich, auf ein Verbot rechtsextremer Organisationen hinzuwirken, um Strukturen zu zerschlagen sowie rassistische Agitation zu erschweren. Es kann nicht angehen, solche rassistische Praxis angesichts ähnlicher Vorfälle im Ausland als „Normalisierung“ Deutschlands zu bagatellisieren und Rechtsextremisten als tolerablen Bestandteil einer pluralistischen Demokratie zu betrachten. Es muß ein Klima geschaffen werden, in dem derartige Aktivitäten gesellschaftlich geächtet sind.

Den einzigen Ansatzpunkt, der sich hierfür anbietet, gilt es auszunutzen, solange es ihn noch gibt: Nichts ist dem neuen Deutschland derzeit wichtiger, als sorgsam darauf zu achten, nicht in den Geruch des alten zu kommen. Man will der Welt beweisen, daß es keinen Grund gibt, Angst vor diesem wiedervereinigten, mächtigen Deutschland zu haben. Selbst Bayerns Innenminister Stoiber sorgt derzeit für Verbote rechtsextremistischer Treffen im Freistaat, weil er Rücksicht auf internationale Empfindlichkeiten nehmen muß. Aber was ist, wenn dieses Stück Scham vorbei ist?

In den nächsten Tagen erscheint Bernd Sieglers Buch „Auferstanden aus Ruinen... — Rechtsextremismus in der DDR“, Edition Tiamat, Berlin, 26 DM