Zur Lage der geteilten Nation

■ Zum ersten Jahrestag erinnert die vereinte Nation eher an eine Zwangsgemeinschaft - mit wechselseitigen Ressentiments.

Zur Lage der geteilten Nation Zum ersten Jahrestag erinnert die vereinte Nation eher an eine Zwangsgemeinschaft — mit wechselseitigen Ressentiments.

Mit dem Bild des abgefahrenen Zuges haben die Propagandisten der Einheit im Laufe des Jahres 1990 gerne die Irreversibilität des Prozesses beschrieben, der scheinbar zwangsläufig in die staatliche Vereinigung mündete. Will man zum Jahrestag der Einheit die Lage der geteilten Nation beschreiben, drängt sich wieder ein Bild aus dem Schienenverkehr auf: zwei Züge, die aufeinanderzufahren. Die staatliche Einheit entpuppt sich als brisante Zwangsgemeinschaft. Doch eine Revisionsklausel stand bei den Verhandlungen zum Einheitsvertrag nie zur Debatte. Zum Prinzip gehörte es damals, die Möglichkeit des Scheiterns nicht einmal hypothetisch zuzulassen. Ein Erfolgsgeheimnis der gefeierten Lokführer war es, jeden Gedanken über den Charakter der Einheit als Experiment auszutreiben, weil der Begriff des Experiments auch den möglichen Mißerfolg beinhaltet. Deshalb fehlen heute die Auffanglinien für die eher glücklose Entwicklung. Was bei jedem x-beliebigen Handel an der Haustür möglich ist, der Rücktritt vom Vertrag, bleibt den beiden Gesellschaften versagt.

In Willi Brandts berühmt-pathetischer Formel — „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ — war die Einheit als gesellschaftlicher Prozeß, nicht bloß als staatlicher Akt immerhin noch angedacht. Doch Brandts national gesättigte Behauptung verwandelte sich schnell zur bloßen Beschwörungsformel, in der vorausgesetzt wurde, was sich heute als Trugschluß erweist: die Zusammengehörigkeit der beiden Gesellschaften. Jetzt wird zusammengesperrt, was nicht zusammengehört, ließe sich zum ersten Jahrestag das Wort zeitgemäß abwandeln. Alltäglich wird heute Brandts Diktum ad absurdum geführt: Da machen skrupellos-ausgebuffte West-Profis 'Super!‘, eine Zeitung, deren fulminanter Erfolg im deutschen Osten einzig auf den täglich bis ins Ekelhafte gesteigerten Ressentiments gegen den Westen basiert. Da werden Mauerschützen in ihren Heimatorten zu kleinen Helden, denen Sympathie und Solidarität nur deshalb bekundet wird, weil sie sich in Berlin (West) vor Gericht für ihre Tat verantworten müssen. Da empfehlen Alt-68er, denen selbst in einer denkbar mühsamen und langwierigen Resozialisierung die Grundregeln demokratischen Miteinanders anerzogen wurden, Strafrecht und Bundesgrenzschutz als praktikable Instrumente für den Zivilisationsprozeß der Ostbürger.

Hoyerswerda wird zweifellos die Einheitsfeier überschatten. Denn manifestiert hat sich in Sachsen nicht nur der ungebremste Haß gegen Fremde, sondern zugleich das Ressentiment gegen die Vereinigung, die den Bewohnern eben nicht nur die soziale Verunsicherung der Marktwirtschaft, sondern auch die Asylsuchenden beschert hat. An ihnen läßt sich schon mal stellvertretend die Wut austoben, die gegenüber dem Westler bislang noch in eher sublimierter Form genossen wird. Das dämmert wohl auch den Einheitspolitikern, die sich konsequent darum gedrückt haben, in Hoyerswerda für den vermeintlichen Wesenskern ihres historischen Projektes — Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Toleranz — einzustehen. In Sachsen wurde in den letzten Tagen der Ernstfall der mißlingenden Einheit geprobt. Der läßt schon jetzt die Festreden zum 3. Oktober schal werden.

Dabei ist die politische Klasse, die 1990 vielbesungen und vermeintlich geistesgegenwärtig reagierte, längst zum Objekt der von ihr forcierten Entwicklung geworden. Schal sind deshalb nicht nur die Reden, mit denen sie sich immer wieder der Richtigkeit ihrer damaligen Entscheidungen versichern; unerquicklich wurde im Verlauf des ersten Einheitsjahres auch die Kritik, die — nicht minder ritualisiert — die Akteure von einst zur Übernahme ihrer politischen Verantwortung auffordert. Die explodierenden Haushaltsdefizite, die schleppenden Investitionen, die stornierten Versprechungen würden ohne Zweifel ausreichen, um in normaleren Zeiten die Regierenden in die Opposition zu schicken. Doch auch die Kritiker des Anschlusses wissen insgeheim, daß die Nörgelei an den Modalitäten der Einheit am Problem der auseinanderdriftenden Ost-West-Bevölkerungen vorbeigeht. Niemand hat auch nur geahnt, wie beziehungslos, unvereinbar und unerbittlich sich die über 40 Jahre getrennten Gesellschaften im Einheitsstaat gegenüberstehen würden. Selbst die insistenten Kritiker des anachronistischen Nationalstaates setzten insgeheim die Bindewirkung des Nationalen als gegeben voraus.

Dieser Irrtum eint noch heute die restlos überforderten Administratoren mit ihren Kritikern. Nicht nur weil die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse keine Alternative zur derzeitigen Regierungskoalition bieten, bleibt der politische Wechsel aus. Vielmehr drückt sich in der unangefochten-quälenden Art, in der die Konservativen weiterwursteln dürfen, zugleich aus, daß die denkbaren politischen Alternativen an die grassierende West-Ost-Entfremdung gar nicht mehr heranreichen. Allenfalls läßt sich heute behaupten, daß das zugegeben grandios inszenierte Politikversagen des Jahres 1990 eine Entwicklung in Gang gebracht hat, der mit Politik nicht mehr recht beizukommen ist. Mit keinem noch so groß angelegten Investitionsprogramm für den Osten, mit keiner zurückgenommenen Steuererhöhung für den Westen wird sich das gegenseitige Mißtrauen auf absehbare Zeit auflösen lassen.

Nicht nur die harmonistischen Perspektiven, die 1990 für die geeinte Nation entworfen wurden, haben sich erst einmal zerschlagen. Auch die von links her beschworenen sozialrevolutionären Gegenszenarien haben sich nicht bewahrheitet. Der schon für das Einheitsjahr prognostizierte heiße Herbst wird auch diesmal ausbleiben. Hier ein Scharmützel zwischen öffentlichen Arbeitgebern und Bediensteten, da eine vorgezogene Rentenanpassung — das war's. Ansonsten grassiert — quasi als positive Unterfütterung des wechselseitigen Ressentiments — die Nostalgie. Merkwürdigerweise sind es eher die Randständigen der vormals getrennten staatlichen Existenzweisen, die jetzt am prononciertesten deren Verlust betrauern. Der radikalere Teil der einstigen DDR-Opposition, dem schon anläßlich der Maueröffnung nichts Gutes für ihr Projekt eines human-sozialistischen zweiten deutschen Staates schwante, hat den profitorientiert- skrupellosen Westler zum Inbegriff des schlechten Neuen erkoren, angesichts dessen sich die alte DDR als wohnliche Ansammlung von Kindertagesstätten, humanen Arbeitsplätzen und wohlfeilen Altersruhesitzen entpuppt. Den zu Verfassungspatrioten bekehrten West-Linken von einst hingegen erscheint die verflossene Bundesrepublik aus der ungeliebten Einheitsperspektive als Inbegriff der civil society — tolerant, multikulturell, urdemokratisch. Die wird ihnen jetzt von den tumb-begehrlichen Ostlern zertrampelt. Über diese Karikaturen west-östlicher Einheitsverlierer ließe sich lachen, fände sich im deutsch-deutschen Alltag nicht fortwährend Stoff, an dem sich die borniert-verletzenden Feindbilder entwickeln und verfestigen ließen. So bleibt zum erstmals gefeierten Nationalfeiertag wenig Hoffnung. Fast will es scheinen, als ob erst das vereinte Deutschland die historische Schuld abzutragen hätte, die mit dem Ende der vierzigjährigen Trennung abgegolten schien. Also doch eine ganz passable Lösung. Matthias Geis