Himmlische Linsen schaffen Klarheit

Auf der Hamburger Astrophysiker-Tagung suchten Wissenschaftler nach dem wahren Alter des Alls/ Weltall doch kein „offenes Universum“/ Mit dem Gravitationslinseneffekt soll der Vergangenheit des Universums auf den Grund gegangen werden  ■ Von Vera Stadie

Die Frage bewegte schon den gallischen Häuptling Majestix: Fällt uns der Himmel auf den Kopf? Auch heute stellt sich Himmelsforschern dieses Problem, wenngleich es mehr um theoretische Betrachtungen geht. Im September trafen sich 130 Astrophysiker aus 22 Ländern in Hamburg zu ihrer bisher größten Konferenz, bei der neben dem Alter des Alls, seinem Gehalt an unsichtbarer Materie vor allem Gravitationslinsen eine Rolle spielten.

Diese Linsen waren bis vor wenigen Jahren noch völlig unbekannt: Das Schwerefeld eines Himmelskörpers lenkt einen Lichtstrahl ab wie eine optische Linse, der Strahl krümmt sich — das ist der Gravitationslinseneffekt. Durch diesen Effekt kann ein Beobachter mehrere oder verzerrte Bilder von Himmelskörpern sehen, beispielsweise von Quasaren. Quasare sind die hellsten Objekte des Universums, sie leuchten so stark wie eine ganze Milchstraße und befinden sich im Zentrum von jungen und weit entfernten Galaxien am Rande des Weltalls.

Wenn zwischen einem Quasar und seinem irdischen Beobachter ein Milchstraßensystem als Gravitationslinse wirkt, fällt sein Licht wie durch ein geschliffenes Weinglas. Der Beobachter sieht das Bild des Quasars doppelt oder umgeben von Ringen oder Bögen.

Schon Albert Einstein wies 1916 im Rahmen seiner Allgemeinen Relativitätstheorie darauf hin, daß auch Licht dem Einfluß der Schwerkraft unterliegt. Aber erst 1979 entdeckte der Engländer Dennis Walsh das erste Doppel-Quasar. Seitdem sind die Himmelsforscher weltweit auf der Suche nach derartigen Mehrfach- Quasaren.

Gravitationslinsen als Meßinstrumente

Von ihren neuesten Entdeckungen berichteten die Gravitationslinsen- Forscher jetzt in Hamburg. Dem wissenschaftlichen Ausschuß der Astrophysiker-Tagung gehörte auch Rainer Kayser von der Hamburger Sternwarte an, wo seit Mitte der 70er Jahre eine Arbeitsgruppe an der Erforschung des Gravitationslinseneffekts arbeitet. Die zweite Internationale Tagung über Gravitationslinsen habe über die Entdeckung einer neuen „Himmelslinse“ hinaus neue Erkenntnisse über das Alter und die Struktur des Weltalls, die Masse von Galaxien und die Verteilung von unsichtbarer Masse im Weltraum gebracht, berichtet Kayser.

Die Forscher nutzen die himmlischen Linsen auf vielfältige Weise als astrophysikalische Meßinstrumente. Wie durch gigantische Teleskope erlauben die Gravitationslinsen einen Blick in die Vergangenheit des Universums.

Die Bilder eines Mehrfach-Quasars gelangen zu unterschiedlichen Zeiten zur Erde. Über diese zeitliche Verzögerung, die „Laufzeitdifferenz“ der beiden Bilder des ersten, 1979 entdeckten Doppel-Quasars, der jetzt mit der Katalognummer 0957+561 versehen ist, stritten sich die Astrophysiker lange. Auf dem Hamburger Kongreß einigten sie sich auf genau 535 Tage und können jetzt mit dieser Zahl den „Hubble- Parameter“ genauer bestimmen. Der soll Auskunft darüber geben, wie alt das Weltall ist. Rund 20 Milliarden Jahre beträgt das Alter des Universums nach bisherigen Berechnungen. Die neuen Beobachtungen an Gravitationslinsen bestätigen diese Zahl und auch den Ungenauigkeitsfaktor zwei, das heißt es könnte auch doppelt oder halb so alt sein.

90 bis 99 Prozent der Materie sind dunkel

Aus der Entfernung der Mehrfachbilder voneinander und aus der Größe der Ringe und Bögen schließen die Wissenschaftler auf die Masse dessen, was zwischen Betrachter und Himmelsobjekt die Strahlen ablenkt. Bei den weiter entfernten Galaxien ist dies die einzige Möglichkeit der Massenbestimmung, weil sie mit Teleskopen nicht zu beobachten sind. Die Massenbestimmung wiederum soll zur Beantwortung der Frage beitragen, wieviel Materie im Universum unsichtbar ist. Die Astronomen schätzen, daß 90 bis 99 Prozent der Materie des Weltalls dunkel sind. Über diese dunkle Materie weiß man noch wenig. Es könnten Sterne mit wenig Masse und wenig Strahlung sein, aber auch exotische Dinge wie schwarze Löcher, so Rainer Kayser. Vergleicht man die mit Gravitationslinsen gewonnenen Meßergebnisse über die Masse einer Milchstraße mit der Helligkeit, die von derselben Galaxie auf die Erde gelangt, so läßt sich der Anteil der unsichtbaren Materie berechnen.

Von einem Weltmodell sei die Astrophysik noch weit entfernt, erläutert Kayser. Man nimmt aber an, daß die geringe Masse an leuchtender Materie nicht ausreichen würde, um die ständige Expansion des Weltalls aufzuhalten. Wenn die Astronomen mit Hilfe der Gravitationslinsen sehr viel dunkle Materie im All finden, wäre das ein Hinweis dafür, daß das Universum doch kein „offenes Modell“ sei, das sich immer weiter ausdehnt. Die dunkle Materie könnte in diesem Fall die Expansionskraft überwinden, und dann könnte das passieren, was Majestix immer befürchtet hat — der Himmel fällt uns auf den Kopf.