Polens Blick auf Deutschland

Die Polen und Polinnen bleiben mißtrauisch: Bei allem Drang zu einer Zusammenarbeit fürchten sie die wirtschaftliche Unterwanderung durch Deutschland  ■ Aus Warschau Klaus Bachmann

Marion D. kam am Freitag, dem Dreizehnten, zwischen 12 und 13 Uhr über die grüne Grenze, klopfte an ein Haus in Solec bei Stettin und fragte, wie sie am schnellsten in die Stadt komme. Marion hatte Pech — sie war gesehen und denunziert worden. Sie gehörte zu jener Minderheit, die im Spätherbst 1989 von polnischen Grenzern in die DDR ausgeliefert wurde. Ins Gefängnis scheint sie allerdings nicht gekommen zu sein. Tausende, die es ihr nachtaten, trafen auf hilfsbereite Polen, die sie in den Bus nach Stettin setzten, selbst hinfuhren und manchen sogar noch die Fahrkarte nach Warschau zahlten, wo sie ohne Schwierigkeiten die unbewachte und überfüllte Botschaft der Bundesrepublik erreichten.

Auf ihrem Rücken und hinter den Kulissen fand indessen ein heimlicher Machtkampf statt zwischen Polens nichtkommunistischem Außenminister Skubiszewski und Polens noch kommunistischem Innenminister General Kiszczak. Der erste hatte garantiert, daß niemand ausgeliefert werde, der zweite berief sich auf ein entsprechendes Abkommen mit der DDR und befahl auszuliefern. Ihm unterstanden die Grenztruppen, die dann auch tatsächlich auslieferten.

Daß Polens Opposition, die damals gerade erst wenige Wochen an der Macht war, sich von Anfang an auf die Seite der Flüchtlinge und gegen die eigenen völkerrechtlichen Verträge mit der DDR stellte, kann man aus heutiger Sicht getrost als polnischen Beitrag zur deutschen Einheit verstehen. Auch, wenn es so direkt nicht gemeint war. Den Intellektuellen um Mazowiecki, Walesa und Geremek ging es um die Freiheit: die eigene und die der anderen.

Damals gab es zwei Schulen im Verhältnis zur DDR: Die DDR schützt uns vor Wiedervereinigung und politisch-wirtschaftlicher Dominanz durch ein eventuell wiedervereinigtes Deutschland und garantiert die politische Stabilität in Mitteleuropa — sagten vor allem die Kommunisten. Die Opposition sah dagegen die DDR vor allem als eine Bedrohung der polnischen Reformen. Was hat man von außenpolitischer Stabilität, wenn man zu Hause nicht machen kann, was man will. Ein wirklich inniges Verhältnis zur DDR hatte keiner von beiden: Nicht, seit Honecker in der Stettiner Bucht Patrouillenboote gegen polnische Kutter geschickt hatte, um „seine“ Zehn-Meilen-Zone durchzusetzen, nicht, seit Breschniew Jaruzelski 1981 mit einem Einmarsch des Warschauer Pakts gedroht hatte: 18 ostdeutsche Divisionen sollten Polens Westgebiete besetzen.

Die Haltung der polnischen Intellektuellen zur deutschen Einheit kam im Herbst 1989 nicht von ungefähr. Schon in den frühen achtziger Jahren hatte man über das Thema diskutiert. Als Prof. Geremek bei Johannes Raus Besuch in Warschau dann den Journalisten ins Mikrophon sprach, Deutschland habe selbstverständlich ein Recht auf Selbstbestimmung, war das nur in Deutschland eine Überraschung. In Polen war diese Einstellung in manchen Kreisen ganz logisch und konsequent: Die Kommunisten hatten vierzig Jahre lang das Gespenst einer Wiedervereinigung an die Wand gemalt, um das Bündnis mit der Sowjetunion zu rechtfertigen. Wie so oft in solchen Fällen, wurde für Polens Antikommunisten dann eben umgekehrt ein Schuh daraus.

„Der Status quo“, schrieb damals der Publizist Jacek Maziarski, „schreibt die deutsche Teilung fest. Aber auch Jalta.“ Und da man in Polen Jalta stets als Ursache allen Übels, von der kommunistischen Machtübernahme, über die sowjetischen Truppen in Polen bis zum Verrat der Westmächte im Bund mit Stalin betrachtet hatte, schien es nur logisch, ein Ende Jaltas zu fordern — auch wenn das die deutsche Einheit bedeutete. Man müsse, so Maziarski, Abschied nehmen von der Maxime: „Je schlechter für die Deutschen, desto besser für uns.“ Die positive Haltung zu einer eventuellen deutschen Einheit entsprang so vor allem dem Antikommunismus und dem Wunsch, die Ordnung von Jalta loszuwerden.

Maziarski gehört heute zu den Köpfen der Zentrumsvereinigung, in deren Reihen zwar lautstark ein schnellerer Anschluß an Europa gefordert wird, zugleich aber auch tiefgehende Ängste vor dem westlichen Nachbarn bestehen. Das gilt für fast alle politischen Gruppierungen: Je nach Sachlage schwanken sie zwischen Deutschland-Euphorie und schwärzestem Pessimismus. Die Haltung Polens zu Deutschland ist im Grunde sehr unstabil und schwankend — sie ist nicht das Ergebnis grundsätzlicher Erwägungen und Analysen, sondern fast immer eine Funktion der aktuellen politischen Lage. Es genügt ein Ereignis, sei es die deutsche Haltung im Golfkrieg, Kohls Reparationen-Äußerungen 1990 oder faschistoide Ausbrüche in Ostdeutschland und die gleichen Zeitungen, die wochenlang über die Notwendigkeit der Zusammenarbeit und Verständigung mit Deutschland, über Austausch und grenzübergreifende Zusammenarbeit geschrieben haben, sehen auf einmal wieder das Deutschland der dreißiger Jahre, revanchistische und nationalistische Horden überhand nehmen.

Rund um die an sich innenpolitische Auseinandersetzung um Reparationen, Zwangsarbeiterentschädigung und Anerkennung der polnischen Westgrenze kam 1990 die 'Gazeta Wyborcza‘ zu dem Schluß, es könne durchaus zweckdienlich sein, die Rote Armee noch ein bischen im Land zu behalten, angesichts dessen, was sich im Westen abspiele. Für eine Zeitlang wurde dies sogar zur offiziellen Lesart im Ministerrat und im Außenministerium. Heute gilt diese Haltung als einer der Kardinalfehler der Regierung Mazowiecki. Dessen Gegner werfen ihm vor, so die Verzögerungstaktik der sowjetischen Generäle erst ermöglicht zu haben. Doch die Haltung, die 1990 hinter dieser Politik stand, ist auch ihnen nicht fremd. Ihr Spitzenkandidat für die Parlamentswahlen im Oktober, der Anwalt Jan Olszewski, reist durch die Lande und warnt vor einem deutschen Generalplan zur Rückgewinnung der ehemals deutschen Ostgebiete. Es bestehe die Gefahr einer wirtschaftlichen Dominanz.

Mehr als schlecht angekommen sind da auch die Vorschläge von Ministerpräsident Stolpe, der unter anderem eine Freihandelszone und eine gemeinsame Entwicklungsbank vorschlug: Nur soll der Gebietsstreifen auf deutscher Seite 50 km und auf polnischer 100 km breit und die Aktienmehrheit der Bank in deutscher Hand sein. Es braucht nicht viel, um in Polen Ängste zu wecken. Besonders, weil sich in Polen zwar langsam die Erkenntnis durchzusetzen beginnt, daß die politische Lage in Westdeutschland stabil sei und die Westdeutschen allen Dämonen der Vergangenheit ein für alle Mal ade gesagt hätten — andererseits dieser „Nachkriegsbonus“ den neuen Bundesländern vorbehalten wird. So gesagt füchtet man in Polen zwar den nunmehr größer gewordenen Nachbarn nicht, wohl aber seinen östlichen Teil, über den man wenig weiß.

Dazu gehören natürlich auch die „Großdeutschlandpläne“, die in Polen selbst noch bis vor kurzem aus den Reihen der Vertriebenenverbände und der deutschen Minderheit kamen. Für die komplizierten Bewußtseinsprozesse, die in den letzten Jahren in den Köpfen der Minderheit abgelaufen sind, hat sich in Polen kaum jemand interessiert. Formell hat die Debatte, ob eine „große Wiedervereinigung“ möglich gewesen wäre, wer ihr Scheitern verschuldet hat und ob auch die Minderheit die Grenze anerkennen soll, mit der Ratifizierung des Grenzvertrags ein Ende gefunden. Doch tatsächlich entspringen die Deutschen-Ängste in Polen ja auch weniger der Furcht vor einem Anschluß Schlesiens, als der Befürchtung, wirtschaftlich unterwandert zu werden. Und die ist geblieben, wie polnische Reaktionen auf die mögliche Ansiedlung Rußlanddeutscher um Königsberg herum zeigen. Hinzu kommt, daß es seit jeher in Polen einen starken Hang zu Verschwörungstheorien gibt. Gibt es für die vermutete Verschwörung keine Beweise, so beweist das noch lange nicht die Nichtexistenz der Verschwörung, sondern lediglich die Gerissenheit der Verschwörer. Von daher muß die deutliche Verbesserung im polnisch-deutschen Verhältnis, die in den letzten zwei Jahren zweifellos stattgefunden hat, nicht unbedingt Auswirkungen auf die Stimmung im Volke haben.