»Das kleine Welttheater«

■ Deutschsprachige Erstaufführung von J.S. Sinisterras »Ay, Carmela!« im BE

Dem umherziehenden Künstlerpaar Paulino und Carmela mißlingt 1938 die Flucht vor den Faschisten. In Belchite, einem besetzten Dorf im Norden Spaniens, sollen sie ihr Varietéprogramm dem Duce, General Franco und einem vollbesetzten Saal gefangengenommener Soldaten der Internationalen Brigade (die am folgenden Morgen erschossen werden sollen) vorspielen.

José Sanchis Sinisterra, der mit seinem »Teatro Fonterizo« seit 1977 die »Grenzen der Theatralität« erforscht, beginnt sein Stück mit dem Auftritt der toten Carmela, die ihrem erstaunten Ehemann das Reich der Toten beschreibt. Durch diesen wiederkehrenden Bruch zeigt Sinisterra die Geschehnisse des Jahres 1938 vor und nach dem Tode Carmelas. Er läßt sie mit dem Lebenden über Erinnerungen streiten, läßt sie über seine Vergangenheitsprobleme (Furzen als Kunst) philosophieren und sich darüber beschweren, daß da oben niemand vorbeikommt, weder Gott, noch Maria, noch sonstwer. Gespräche mit einem Engel.

In die Varietévorführung vor Carmelas Tod plaziert Sinisterra die Gretchenfrage des Abends: Ist ein Künstler ein politischer Mensch? Paulino ist es jedenfalls nicht, er versucht nur, sein — und Carmelas — Fell zu retten, und kämpft um einen reibungslosen Ablauf der Vorstellung, wohlwissend, daß die Theaterbühne sehr schnell zur Hinrichtungsstätte werden kann. Carmela aber kann ihre Ideale der Freiheit und der Republik nicht verleugnen und verraten...

Dieser große Themenkomplex von Beziehungsgesprächen, Künstlerdasein, Totenreich und spanischem Bürgerkrieg hätte leicht langweilig oder pathetisch werden können. Daß das nicht so ist, liegt an dem facettenreichen und oft auch derb- ironischen Text von Sinisterra, der auch in der an spanischen Redewendungen angepaßten und lebendig klingenden Übersetzung von Alejandro Quintana und Jörg Mihan zwei Stunden lang trägt.

Peter Bause als Paulino und Renate Richter als Carmela (die immer wieder durch ihr komödiantisches Talent von der Ungläubigkeit in den ernsten und stillen Szenen gerettet wird) spielen souverän und zeigen in den clownesken Varieténummern (wie etwa dem chinesischen Zaubertrick oder »Dr. Fassensiemichüberallan«), wo ihe Stärke liegt.

In der schlichten, schwarzen Guckkastenbühne von Manfred Grund, der auch für ihre Kostüme verantwortlich ist, inszeniert Alejandro Quintana klug die komödiantische Dominanz des Textes und vermeidet die Peinlichkeit des Nachfühlens der »Spanischen Mentalität« durch Übersetzung aller spanischen Namen und Songtexte ins Deutsche. Sogar der befürchtete »Flamencotanz« blieb aus. Die Schwierigkeit der Traditionstreue zum brechtschen Regieverfahren zeigt sich allerdings bei den ernsten Textstellen, die ein Miteinanderspielen und Nähe erfordert hätten, die so aber deplaziert und sinnentleert wirken.

Der Schluß des Stücks zeigte dann die Gratwanderung, die man beschritt: Während Paulino versucht, sich als Hausmeister zu bewähren, skandiert die tote Carmela pathetisch eine Klage gegen den Faschismus in altbekannter Manier. Das Premierepublikum im nicht ausverkauften Haus des Berliner Ensembles fand jedoch Gefallen daran und klatschte ausgiebig. York Reich