Ein Marktplatz der Möglichkeiten

■ Gespräch mit Jürgen Palm, dem Präsidenten des Internationalen Breitensportverbandes (Tafisa)/ Flammendes Plädoyer für die Einheit des Sports in der Vielfalt seiner Möglichkeiten

Über eine Milliarde Menschen treiben weltweit Sport. Am 8. März 1990 wurde in Stuttgart von 31 Nationen der Gründung von Tafisa (Trim and Fitness — International Sport for All Association) zugestimmt. Im Juni 1991 wurde in Bordeaux die Gründung dieses Breitensportverbandes von mittlerweile 47 Mitgliedsländern bestätigt und Jürgen Palm, Geschäftsführer des Deutschen Sportbundes (DSB), zum ersten Präsidenten gewählt.

taz: Dr. Palm, wie wird man Tafisa- Präsident?

Jürgen Palm: Ich glaube, die Tatsache, daß man mich gewählt hat, hängt damit zusammen, daß Deutschland im Breitensport Vorbildfunktion hat und zu den frühesten Ländern gehört, die Breitensport neu entwickelt haben — zunächst mit dem „zweiten Weg“, später mit der Trimm-Aktion — und ihn mittlerweile zu einem Exportartikel gemacht haben.

Ist denn global ein Trend zum Breitensport vorhanden?

Wachstum im Sport findet heute weltweit statt. Es gibt kein Land der Erde, das nicht von Zuwächsen berichtet. Die Abstände sind allerdings riesengroß. Während in der alten Bundesrepublik, Österreich und den skandinavischen Ländern nahe an 70 Prozent der Bevölkerung von sich sagen, ich treibe unregelmäßig oder regelmäßig Sport, liegt der Anteil in Vietnam zum Beispiel bei nur 3,5, in Korea bei 25, in Japan hingegen bei über 60 Prozent. Hier lassen sich unschwer Zusammenhänge zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung, der Freizeitentwicklung und den persönlichen Umständen erkennen.

Breitensport hat in Deutschland eine lange Tradition. Wie ist die Entwicklung international?

Wir haben in unserem Land mit der Turnbewegung, die am Anfang des 19. Jahrhunderts entstand, ein kräftiges, historisch bewährtes Kernstück des Breitensports. In den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts kam eines neu hinzu, die Entwicklung nationaler Kampagnen. Die Norweger waren die ersten, die mit dem Wort „Trim“ 1968 die Prinzipien moderner Marketingstrategie auf die Ausbreitung des Sports übertragen haben. Wir gehören mit zu den ersten, aber auch USA und Kanada waren neben den Skandinaviern am Start. Die meisten Kampagnen sind allerdings in den letzten fünfzehn Jahren entstanden. Nach 1975 hat sich das ganze weltweit ausgebreitet. 1968 fand in Frankfurt der erste Weltkongreß „Sport für alle“ statt. Schon damals waren etwa 30 Entwicklungsländer beteiligt, z.B. Zaire, Zimbabwe, Peru, Dschibuti, Puerto Rico und Macao.

Sind denn in der Dritten Welt überhaupt Voraussetzungen für eine Breitensportbewegung gegeben?

Diese Länder haben sicherlich den großen Nachteil der wirtschaftlich schlechteren Voraussetzungen. Dafür weisen sie allerdings zwei wesentliche Vorteile auf. Der eine ist das Klima, man braucht keine überdachten Anlagen. Zum anderen haben diese jungen Völker noch nicht hundert Jahre Sitzzwang hinter sich, wie die Deutschen oder andere Industriegesellschaften. Sie sind also noch näher am „Moving Man“, am Menschen, der sich natürlich bewegt.

Stichwort Markt und Marketing. Gibt es da nicht Kollisionen bzw. Konkurrenzen zwischen dem gesellschaftspolitischen Breitensport- Engagement von Ihnen und der wirtschaftlichen Vermarktbarkeit der Fitneßwellen wie z.B. Aerobic in Amerika?

Die Amerikaner haben tatsächlich eine große Bedeutung als Katalysatoren neuer Trends. Sie sind die Weltmeister darin, neuen Bedürfnissen und Entwicklungen einen Namen, ein Etikett zu geben, auch wenn diese Entwicklungen ganz woanders herkommen. Beispiel: Es waren im wesentlichen die Forschungen von Professor Hollmann, die die neue Ausdauerbewegung wissenschaftlich begründeten, aber der große Mann in der Umsetzung in der Öffentlichkeit war der amerikanische Arzt Kenneth Cooper. Man kann nicht auf der einen Seite den sitzenden Menschen durch Kampagnen zu verführen suchen und dann etwas dagegen haben, wenn andere mit der Verbreitung und Vermittlung von Sport und Bewegung auch Geld verdienen. Allerdings sind heute vermarktbar und wirtschaftlich interessant etwa 20 Sportarten, wir haben aber etwa 200 Sportarten, um die es sich zu kümmern gilt, deren Erhaltung im Sinne einer kulturellen Vielfalt wünschenswert ist.

Gibt es denn Sportarten, kulturspezifische Bewegungsformen aus Dritte-Welt-Ländern, die durch ihren Weltverband in unsere Breiten vordringen?

Sport und insbesondere Breitensport sind heute ein Feld interkulturellen Austausches. Wir haben das erlebt beim Siegeszug des Laufens rund um die Welt. Andererseits haben wir erlebt, daß fernöstliche Kampfsportarten umgekehrt von Ost nach West Verbreitung fanden. Heute gibt es eine ganze Reihe solcher Austauschprozesse, beispielsweise bei den Tänzen, die wir ja hoch einschätzen müssen, was die aerobische Bedeutung angeht. Im kommenden Jahr werden wir in Bonn das erste Weltfest der Sportkulturen durchführen. Da werden 30 Länder ihre Bewegungskünste vorstellen, ob das Sportarten sind wie die iranische Keulengymnastik oder das chinesische Tai Chi, das Bumerangwerfen der australischen Ureinwohner oder brasilianische Kampftänze.

Ist ein Trend zum Breitensport, weg von der Leistung erkennbar?

Wir haben zwei hochinteressante gegenläufige Bewegungen. Zum einen die Sportrevolution des Olympismus. Sie war dadurch möglich, daß Sportarten im höchsten Grade standardisiert wurden. Volleyball bleibt Volleyball, ganz gleich, wo es gespielt wird. Es gibt aber auch die gegenläufige Bewegung, daß der Breitensport sich immer mehr in Formen ausdifferenziert als Erlebnis. Und Abenteuersport, als Fitneß- Training, Meditation, die man nicht sitzend, sondern tanzend oder bei Gymnastik vollzieht. Also Differenzierung, nicht Standardisierung. Man macht sich den Sport so, wie man ihn braucht.

Wie sieht das Programm der Tafisa für die Zukunft aus?

Zum einen gibt es in Zukunft in zweijährigem Abstand Konferenzen der nationalen Experten, die nächste ist 1993 in Tokio. Zweitens gibt es die internationalen Spielfeste, in diesem Jahr im September in England, im nächsten Jahr in Montreal, danach Bogota. Wir haben darüber hinaus alle vier Jahre das Festival „Sportkulturen der Welt“. Das sind die Stützpfeiler, auf denen die internationale Arbeit ruht. Wir planen Schulungszentren in Europa und im Fernen Osten, später auch in Lateinamerika, zur Ausbildung von Führungskräften im „Sport für alle“.

Setzt Tafisa international Prioritäten in den Programmen, zum Beispiel Für die Jugend oder die Senioren?

Wir sind kein Dachverband, der seinen Mitgliedern Vorschriften macht. Wir sind ein Marktplatz der Möglichkeiten, von dem sich jedes Mitglied für sein Land das passende mitnehmen kann. Allerdings setzen ökonomische und soziale Profile der einzelnen Länder Prioritäten, an denen man nicht vorbeikommt. In der Bundesrepublik und in Nordamerika haben wir die Aufgabe, vor allem für den älteren Menschen zu sorgen. In naher Zukunft werden 40 Prozent unserer Bevölkerung über 60 Jahre alt sein. In Brasilien hingegen ist ein riesiges Übergewicht an Jugendlichen, die ohne Eltern auf der Straße aufwachsen. Es tun sich große Problembereiche auf. Hier hat auch der Sport eine Aufgabe.

Ein Schlußplädoyer?

Seit hundert Jahren prägt der olympische Sport das gesellschaftliche Antlitz unserer Welt mit. Wir sind nun in einer neuen Aufbruchphase des Sports. Ich möchte nicht, daß diese beiden Strömungen auseinanderlaufen. Daß die olympische Welt eine Welt des Zuschauens und die „Sport für alle“-Welt die der Teilnahme bleibt, sondern daß Leistungssport und Breitensport Nachbarn bleiben, sich als zwei Ausdrucksformen derselben Sache sehen. Ich plädiere für die Einheit des Sports in der Vielfalt seiner Formen. Interview: Michael Schläbitz