In den Straßen von Saigon

■ Vor dem Rathaus der Viermillionenstadt sitzt, in Bronze gegossen, Ho Chi Minh, der Vater der vietnamesischen Revolution — zu seinen Füßen ein glückliches Kind. Doch in den Straßen der nach ihm umbenannten Metropole mischt sich altes Elend mit neuem. Dazwischen suchen die Kinder ihr Überleben.VON MICHAEL SONTHEIMER

Ein warmer, fauliger Wind weht vom Saigon-Fluß die Dai Lo Nguyen Hue hinauf. Die wenigen altersschwachen Straßenlaternen werfen nur ein kärgliches Licht auf die vereinzelten Fahrradfahrer, die um elf Uhr abends noch unterwegs sind.

Kurz vor der Uferpromenade findet sich auf dem brüchigen Trottoir ein ärmliches Straßencafé: acht wacklige Klappstühle, zwei Tische und ein Wagen mit Getränken. Das Café ist ein Treffpunkt der Straßenkinder von Saigon. Tagsüber betteln sie oder versuchen den immer zahlreicheren Touristen Stadtpläne, Postkarten und T-Shirts zu verkaufen, nachts paffen sie hier stolz die Marlboro, erzählen wie sie einen reichen Amerikaner ausgenommen haben und spielen Karten um Geld.

Kannarith ist Kambodschaner. eine Eltern flohen 1978, nachdem die Roten Khmer in Kambodscha ihr Terrorregime errichtet hatten, nach Vietnam. Er verkauft amerikanische Kaugummi und macht mit einer Packung umgerechnet sechs Pfennige Gewinn. Ein Kilo Reis kostet auf dem Markt mittlerweile schon mehr als eine Mark. Eine Hose und ein Hemd sind alles, was Kannarith besitzt. Gelegentlich verkauft er sich als Strichjunge an Schwule.

Aids und Hoffnung auf bessere Geschäfte

„Du has bestimmt Sida“, sagt Ngha mit einem bösartigen Lächeln. Die Chefin des Cafés ist 35 Jahre alt und hat zwei kleine Kinder. Ihr Mann hat sich abgesetzt. Vor ein paar Wochen, erzählt Ngha, sei der erste Fall von Aids in Ho Chi Minh-Stadt entdeckt worden. Ein Vietnamese, der lange Zeit in der Bundesrepublik lebte, hat nach seiner Rückkehr eine Frau in Saigon angesteckt. Seitdem sind die Zeitungen voll mit Berichten über Sida, wie es hier auf französisch abgekürzt wird.

Ngha ist in Saigon geboren, aber sie spricht mit Bitterkeit über ihre Heimatstadt. „Als die Kommunisten kamen, dachten wir, alles wird besser“, sagt sie. „Das war leider ein großer Irrtum. Damals war Saigon eine reichere Stadt als Bangkok oder Phnom Penh, sieh es dir jetzt an. Es ist so entsetzlich arm.“ Sie hofft darauf, daß mit den Ausländern, von denen immer mehr in die Stadt kommmen, die Geschäfte wieder besser werden.“

Vielleicht fünfhundert Meter von dem kleinen Straßencafé entfernt, am oberen Ende der Dai Lo Nhguyen Hue erhebt sich das Rathaus von Ho- Chi-Minh-Stadt — wie Saigon seit dem Einmarsch der Kommunisten am 30. April 1975 offiziell heißt. Bac Ho, Onkel Ho, sitzt in Bronze gegoßen vor dem mit Stuckköpfen, Simsen und Säulen überladenen Bau, zu seinen Füßen ein glückliches Kind. In dieser Anfang diesen Jahrhunderts zu Stein gewordenen Phantasie eines Zuckerbäckers arbeitet Nguyen Son. Der freundliche ältere Herr ist beim Volkskomitee von Ho-Chi-Minh- Stadt, wie die Stadtverwaltung sich nennt, für Fragen der Ideologie zuständig. In einem Empfangsraum, der mit braunen Skaisesseln und einer angestaubten Leninbüste die ganze Trostlosigkeit realsozialistischen Repräsentationswillens offenbart, referiert er jedoch als guter Marxist zunächst ein paar grundlegende sozio-ökonomische Daten.

Als die Franzosen 1859 die Stadt eroberten und den Hafen für ausländische Waren geöffnet hatten, lebten hier 40.000 Menschen, heute sind es über vier Millionen. In der Innenstadt drängeln sich mittlerweile auf einem Quadratkilometer 17.000 Bewohner. (In einer deutschen Großstadt leben rund 3.000 Menschen auf der gleichen Fläche.) Ein Saigoner hat im Durchschnitt nur ganze fünf Quadratmeter Wohnfläche für sich. Wer in die Stadt ziehen will, braucht eine Zuzugsgenehmigung. „Aber das ist die Theorie“, räumt Nguyen Son ein, „viele kommen einfach so.“

Nguyen Son rechnet mit zehntausend Obdachlosen, aber es gibt auch wesentlich höhere Schätzungen. Zwar können mittlerweile auch Privatleute wieder Häuser bauen, doch die Stadt hat nicht die Mittel, billige Wohnungen zu erstellen. Sorgen bereiten dem Ideologieexperten auch die Heroinabhängigen, von denen es wieder mindestens zehntausend gibt. In den Hochzeiten der amerikanischen Präsenz waren es nahezu hunderttausend, anschließend konnten die Kommunisten mit drakonischen Maßnahmen den Drogennachschub vorübergehend drosseln. Auf die Dauer jedoch läßt sich eine Hafenstadt wie Saigon nicht völlig austrocknen, zumal Opium und Heroin im Nachbarland Laos produziert werden.

Die Zahl der Prostituierten sei unbekannt, sagt Nguyen Son, da Prostitution illegal sei. Gelegentlich würden Bordelle ausgehoben, aber solche Aktionen können den aufschwung des Gewerbes nicht stoppen. „Die Ausländer zahlen so gut“, begründet das der Ideologieexperte, „da ist die Verlockung zu groß.“ Es gäbe, fährt er fort, inzwischen auch Teilzeitprostituierte, die tagsüber im Büro arbeiteten und abends in den großen Hotels Ausländer auftun würden.

Frauen, welche die Polizei beim Anschaffen erwischt, werden in Arbeitslager verfrachtet und dort im Flechten von Bambuskörben ausgebildet. Rückfällige kommen für sechs Monate ins Gefängnis. „Wir versuchen Ihnen vor allem Jobs zu verschaffen“, erklärt Nguyen Son die simple Pädagogik der Stadtverwaltung, die in ähnlicher Form auch bei Heroinabhängigen angewendet wird.

Die Arbeitslosigkeit ist die entscheidende Ursache für das Elend in den Straßen Saigons. Die ruinierte vietnamesische Wirtschaft kann auch nicht annähernd allen jungen Menschen Arbeit bieten. Zwar versucht die Regierung seit drei Jahren, mit einer radikalen Reform und der Einführung der Marktwirtschaft die Dauerkrise zu überwinden, doch für die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegskinder reicht es bei weitem nicht. In Saigon gibt es Nguyen Son zufolge fast 130.000 Arbeitslose, vor allem Jugendliche. Ausländer gehen noch weiter und schätzen den Anteil der Arbeitslosen bei den jungen Saigonern auf mehr als fünfzig Prozent.

Hilflose Reaktionen auf wachsende Kriminalität

Soziale Misere nährt das Verbrechen. Die Zeitungen berichten darüber, daß eine erfolgreiche Einbrecherbande endlich gefaßt wurde. Die jungen Männer, die sich auf diese Weise Arbeit verschafft hatten, waren mit Walkie Talkies, Pistolen und schnellen japanischen Autos ausgerüstet. Bereits im vergangenen Herbst hat das Volkskomitee eine große Kampagne gegen die Kriminalität lanciert. Die Polizei wurde verstärkt und die Bevölkerung aufgefordert, Straftäter anzuzeigen. Gleichzeitig erging aber auch ein Straferlaß für kleinere Delikte.

Wenn Nguyen Son über die Ursachen dieser ganz und gar nicht sozialistischen Zustände spricht, greift er am liebsten auf zwei Sündenböcke zurück: die Erblasten des alten, von den Amerikaner bezahlten Regimes und die schlechten Einflüsse von außen, zum Beispiel durch amerikanische Videos. „Das ist der Preis der Öffnung unseres Lande“, klagt er, „wir müssen versuchen, den Schaden zu begrenzen.“ Sein Plädoyer lautet: „Wir müssen für die jungen Menschen Jobs schaffen und kulturelle Angebote machen.“

Die Kommunistische Partei habe Fehler in der Erziehung und Propaganda gemacht, räumt er selbstkritisch ein. „Wir haben den Leuten nur die Ideologie gepredigt, ohne auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Wir wollten zum Beispiel den Jungen abgewöhnen, Diskomusik zu hören.“ Der verbeamtete Revolutionär, der dreißig Jahre für die Befreiung gekämpft hat, wirkt überfordert und hilflos.

„Idioten“ ist noch eine der freundlicheren Bezeichnungen, die Mai für Nguyen Son und seine Genossen übrig hat. Mai ist die Seele vom Geschäft in dem ärmlichen Nachtcafé auf der Dai Lo Nguyen Hue: 23 Jahre alt, kurzer Rock und dreckige Beine, mit der Lebenserfahrung eines Straßenkindes, streetwise.

„Ich hasse Hanoi“, sagt sie, „ich will dort gar nicht hin. Ich hasse die Kommunisten.“ Ihr Vater war Hubschrauberpilot in der südvietnamesischen Armee und wurde deshalb 1975 in ein Umerziehungslager gesperrt. „Sie haben uns nicht gesagt, wo er ist“, erzählt Mai erregt. „Sie haben uns nicht gesagt, ob er noch lebt. Sie haben meiner Mutter und mir nur gesagt: Haut ab, oder ihr kriegt Ärger.“ Kurz darauf wurde auch ihre Mutter aufs Land deportiert.

Alles für ein Ausreisevisum

Mai war gerade acht. Sie mußte auf der Straße leben und versuchte Blumen an Touristen zu verkaufen. „Aber damals kamen kaum Touristen, höchstens Russen, und die haben keine Blumen gekauft. In der Regenzeit habe ich auf der Straße gesessen unter einem Baum. Ich konnte nicht schlafen, weil alles so naß war. Und ich war dumm damals, ich hatte keine Ahnung vom Leben. Also bin ich von Männern beschissen worden.“

Sie lernte einen Peter aus Hamburg kennen, der in das Tourismusgeschäft einsteigen wollte. Als sie schwanger geworden war, sagten ihre älteren Freunde auf der Straße: „Wenn du das Kind haben willst, muß er dich heiraten.“ Peter hatte ihr erzählt, er sei ledig, doch es stellte sich heraus, daß er in Deutschland eine Freundin und Kind hatte. „Er ist einfach verschwunden und hat nie wieder etwas von sich hören lassen.“

Mai ließ abtreiben, bei einem Engelmacher. Sie hatte lange Schmerzen, aber jetzt sei es wieder in Ordnung, sagt sie. Später lernte sie einen amerikanischen Studenten kennen, der sich in sie verliebte und immer wieder kam. Es war in den Zeiten, als es noch gefährlich für Vietnamesen war, überhaupt mit Ausländern zu sprechen. Mike hat sie im letzten Sommer geheiratet, inzwischen hat Mai schon einen Paß und wartet auf ihre Ausreisegenehmigung in die USA.

Aber sie hat noch einen anderen Amerikaner an der Angel, einen Diplomaten, der für die amerikanische Botschaft in Bangkok die Auswanderung von Vietnamesen in die USA betreut. „Er ist 47, hat kaum Haare auf dem Kopf und ist ziemlich arrogant“, beschreibt sie ihn. „Er hat mir angeboten, daß er alles für mich regelt, die Ausreise in die USA und meine Scheidung von Mike. Zweitausend Dollar wollte er mir geben. Aber er ist verheiratet und hat Kinder. Er will Schmetterling spielen oder Playboy. Ich überlege immer: ,Soll ich ihm die zweitausend Dollar abknöpfen und ihn einfach ablinken?‘“

Die Angelegenheit wird gründlich im Nachtcafé diskutiert. „Du nimmst das Geld und sagst ihm: ,This was it‘“, schlägt Ngha vor. „Eine Nacht kannst du ihm als Souvenir gönnen“, meint Kannarith. „Aber wenn er mir dann Schwierigkeiten macht und ich wieder aus den USA rausfliege“, sorgt sich Mai. Auch für diesen Fall hat Ngha einen Rat: „Dann sagst du einfach seiner Frau Bescheid. Oder noch besser seinem Chef.“

Mai, die gewöhnlich wie ein Wasserfall redet, ist verstummt. „Vielleicht gefällt es mir gar nicht in Amerika“, sagt sie und starrt die düstere Dai Lo Nguyen Hue hinunter. Eine dicke Ratte huscht über das Trottoir.