KALENDERBLATT
: Mein Tag der deutschen Einheit

■ Zwischen Buffet und Straße

Ich bin das Volk. Als solches jedenfalls stehe ich an einem kinnhohen Rundtisch im Hamburger Rathaus. Nicht im Saal der Honoratioren, denen ein opulentes Buffet zeigt, daß am Tag der deutschen Einheit nicht gekleckert wird, sondern geklotzt. Ich stehe in einem getäfelten Nebenraum, in dem der NDR die Bauchschmerzen der Brüder und Schwestern diagnostizieren wird. Neben mir Momper, den will ich anzählen wegen der Streichung Rosa Luxemburgs aus dem Berliner U-Bahnregister. Doch aus Rosa wird nichts, die Fragen lassen nur Labern über deutsch-deutsche Krämpfe zu. Nach fünf Minuten sind wir abgehakt — Momper verschwindet im Buffetsaal, ich als Volk hinter den Kabeln und Strippen. Ich hasse mich. Wozu bin ich nach Hamburg gekommen?

Herr Rühe tritt an den Rundtisch: „Nur noch echte Bürgerrechtler sind am Ruder der Ost-CDU“, tönt es. Hört, hört.

Danke Herr Rühe, aber nun ist die SPD dran — Anke und Oskar haben sich vom Buffet losgeeist — danke, Anke und Oskar!

Danke auch, Herr Schlesinger — danke Herr Seiters!

Bei Herrn Biedenkopf reicht es mir. Ich habe das Theater satt samt der getäfelten Kulisse, aus der die Honoratioren das Volk zur Solidarität mit Ostlern und Ausländern aufrufen. Ich möchte Biedenkopf fragen, wieso er heute nicht im Plaste- Elaste-Kasten von Hoyerswerda weilt, seinem brodelnden Bundesland also. Der Aufnahmeleiter erbleicht. „Das geht nicht“, flüstert er, „jetzt ist Herr Biedenkopf an der Reihe!“ Ich wechsle Standbein und Spielbein — genau wie Herr Biedenkopf, der jetzt die Sachsen lobt und dann sich selber.

„Geht doch einfach hin!“ raunt ein dissidentischer Strippenzieher in meinen Rücken. „Sind Sie verrückt geworden?“ faucht der Aufnahmeleiter. Wer — ich? Der Strippenzieher vielleicht, ich nicht, ich bin das Volk.

Danke, Herr Biedenkopf — bitte, Frau Süssmuth! Ich hasse mich. Gehe endlich los, trete nun ausgerechnet der lieben Frau Süssmuth zu nahe: Die lächelt erst nett, dann nur noch gefaßt, ich greife das letzte Wort — danke, das war's, Abspann.

Der Strippenzieher strahlt, ich fühle mich elend und werde nun zur Strafe in den Freßsaal eingeladen. Niemals! An Vorzeigejugendlichen und Vorzeige-DDRlern vorbei schleiche ich davon, im Zwischendeck schaufeln zwei Kellner Lachs in sich hinein, ich kämpfe mich durch den Cordon von Männerkörpern.

Dann endlich weicht der Alptraum hanseatischer Noblesse. Die Straße hat mich wieder: die gaffenden Hamburger, die bayerische Blaskapelle — die Doppelkette von gespreizten Beinen, Helm und Schild, die uns Feiernde vor der Randale schützt.

Zwischen dem Lederhintern eines Bullen und meinen Füßen verzischt eine grüne Leuchtkugel — mein Signal! Jetzt meine Reihe finden, bei einem Bußgang das Klebrige herausschwitzen! Hoch-die-in-ter-na-tio- na-le-So-li-da-ri-tät! — versucht mich eine tote Parole abzuschrecken. Doch ich stoße vor — zum Protestzug von einem Ausmaß, das mich erstmals für Hamburg erwärmt.

Die DKP ist noch nicht meine Reihe. Auch die Feministinnen lasse ich durch, die TrotzkistInnen und Autonomen (die totunglücklich wirken inmitten dieser Latschdemo). Schiebe mich irgendwo zwischen Kinderwagen und einen Friesen, der „Laßt mich mit den Deutschen nicht allein!“ fleht. Ich laß dich nicht allein Junge, ich habe einen umbrischen Großvater. Und wieder dieses Hoch- die... Plötzlich fange ich an zu heulen wie in der Nacht, als die Mauer fiel. Dieser Tag ist so grotesk. Setze mich nach Altona ab, zu Biermann und seiner schönen Frau, aber eigentlich will ich nach Hause.

„Was das alles kostet!“ mault der Taxifahrer und findet, die Türken hätten nun genug verdient, um sich zu Hause eine Existenz aufzubauen. Ich mache ihn fertig, wenigstens einen heute.

Am Flughafen holt mich die Noblesse wieder ein: Vor mir, am Abfertigungsschalter, zwei Bonner Gesichter: „Hat alles gut geklappt“, sagt das eine. „Kann man sagen“, das andere. „Nur die Jüdische Gemeinde ist nicht gekommen.“ Schweigen. „War vielleicht besser so.“ Die Gesichter nicken.

Dann rauscht Frau Bergmann- Pohl in die 1. Klasse (die Bonner Gesichter begnügen sich mit der 2.). Aus dem Lautsprecher perlen die Perlenfischer... Ich versuche, mein Schamgefühl abzuwiegeln.

Im Kreuzberger Hausflur toben meine palästinensischen Nachbarskinder. „Ick hab dir jesehn“, plärrt Siad, „in eenem wunderschönen Schloß. Ick weeß, det war inne DDR.“ In Berlin war auch Demo, erfahre ich, aus unserem Haus sei aber niemand hingegangen — weder Palästinenser, noch Italiener, noch Türken.

Meine Tochter kommt aus dem Bad — dahinter ihr Kerl, ein Handtuch um die Lenden. Sie finden, vor dem Abendbrot lasse sich die deutsche Einheit am besten vollziehen. An diesem Tag könnte ich überhaupt nichts vollziehen, denke ich neidisch und schalte die Kiste an: Helmut!! Mit gefalteten Händen lobt er Deutschlands Ausländerfreundlichkeit und seine Politik. Dann telefoniert Helmut mit Michail — Michail läßt Hannelore grüßen. Ich lache — irgendwie eine Oktave zu hoch — und beschließe, mir heute keinesfalls noch Herrn Müller oder Herrn Schmidt zuzumuten oder Herrn Schorlemmer, der ziemlich feige war und nun so mutig wie Luther gewesen sein soll.

Wende mich dem Stapel „Features zur Verständigung mit Ausländern“ zu, den ich bis zum Mittwoch durchzuackern habe. So bleibe ich wenigstens am Thema.

Und so erfahre ich erst am folgenden Morgen des Glanztages, daß Rechtsradikale zwei libanesische Kinder fast zu Tode verbrannt haben. Im deutschen Westen — das verschafft mir nicht eine Sekunde Erleichterung. Freya Klier

Die Autorin lebt als Regisseurin in Berlin.