»Augen schließen, sonst seht ihr nichts«

■ Surreale »Alice« von Jan Svankmajer

Irgendwo hoch droben mag die Freiheit wohl grenzenlos sein. Hienieden jedoch wird sie ordentlich dingfest gemacht. Ein Domestik im Schaukasten der Zivilisation. Klassifiziert. Präpariert. Aus. Was vordem noch frank und frei einhersprang, (ver)endet — beispielshalber — als »Lupus cuniculus No.23« im verstaubten Wissensregal. So geschehen dem wundersamen »White Rabbit« in der außerordentlichen Verfilmung von Lewis Carrols Alice in Wonderland durch den Tschechen Jan Svankmajer.

Was aber geschieht, wenn die Dinge von neuem ihren Lauf nehmen, sich unversehens aus den groben Verankerungen im Faktischen losschrauben, um sich keinen Deut mehr um das Regiment der Vernunft zu scheren? Ein Ding der Unmöglichkeit? Svankmajer, virtuoser Meister surrealer Animation, läßt in seinem ersten abendfüllenden Spielfilm Alice die Puppen tanzen. Wahn- witzig geht es zwischen Real- und Trickfilm hin und her, tauschen Objekt und Subjekt, Wirklichkeit und Traum die Seiten, bis die Aufklärung im Satz vom Grund endgültig aufsteckt. Flugs dringt der phantastische Paternoster unter die Oberfläche plumpen Alltags, wo alles Lebendige in Konserven überdauert, und taucht in den Abgrund der eigensinnigen Triebe. Unaufhörlich verrinnt die Zeit, sickert das Sägemehl aus dem Balg des selnbstbefreiten Stallhasen. Alices Weltbild paßt nicht mehr. Oder paßt Alice nicht mehr in die Welt? Circumstantiae variant rem. Die Umstände ändern die Dinge. Keine Kleinigkeit, wenn dann eine possierliche Ratte kurzerhand Pflöcke in Alices Schopf treibt, um just dort ihr Süppchen zu kochen. Keine Kleinigkeit auch für den Zuschauer, Zugang zu Svankmajers alles andere als kindischer Traum-Welt zu finden. Den Schlüssel zum rätselhaften Welt-Traum verrät Alice gleich zu Beginn der magischen Reise: »Ihr werdet jetzt einen Film sehen. Aber ihr müßt die Augen schließen — sonst seht ihr gar nichts!« Svankmajers schwarze Kunst geht weiter als man sich gewöhnlich träumen läßt. Die Dinge, aus dem vertrauten Zusammenhang gelöst, gehen ihrem skurril-makabren Eigenleben nach, daß die Erkenntnis an den verwandelten Erscheinungsformen irre werden will. Grauen und Verzücken. »Schlagt ihr den Kopf ab!« gebietet die »Queen of Hearts« beim abschließenden Tribunal. Der definitive Schluß wahrsagender Imagination? Think visual!

Mit der Hommage The cabinet of Jan Svankmajer, Prague's Alchemist of Film rankten die illustren Brothers Quay schon vor Jahren um ihren Ahnherrn einen britischen Sub-Kult. Zeit für Zeichen und Wunder endlich auch in Berlin. Roland Rust

Alice in deutcher Erstaufführung im Kino in der Brotfabrik, Prenzlauer Promenade, bis 9.10. um 21.00, ab 10.10. um 19Uhr.