Überleben im Umzugschaos

Brüsseler EG-Beamte müssen aus dem asbestverseuchten Berlayemont-Gebäude in andere Unterkünfte ziehen  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Stinkend braune Brühe sprudelt aus zwei gigantischen Rohren. Auf der dampfenden Kloake bläht sich gelblicher Schaum, wabert über Bierdosen und Tierkadaver. Tampons tanzen für einen Augenblick auf kotbeschwerten Wellen, um dann ihre Reise in die weite Welt anzutreten. Keine Kläranlage hindert die freie Fahrt über Senne und Schelde in die Nordsee. Schließlich handelt es sich um die gesammelte Scheiße der Hauptstadt Europas, wo grenzenloser Verkehr zum obersten Glaubenssatz erhoben wurde.

Am Arsch Brüssels ist auch sonst beseitigt, was im europäischen Alltag noch zu häßlichen Verwerfungen führt — die Standesunterschiede. Ob Eurokraten oder Brüsseler Normalbürger, zumindest in der Notdurft sind sie ungeklärt vereint, auch wenn sie sonst wenig gemein haben. Getrennte Wohnbezirke, eigene Schulen und Zeitungen, wesentlich höhere Gehälter, bessere Arbeitsbedingungen — die Euros sind in Brüssel Bürger erster Güte. Daß es bei den lukrativen Klassenverhältnissen bleibt, dafür streikte das Heer der Eurokraten letzte Woche erneut, nachdem es schon im Juli in den Ausstand getreten war. Wenn es ihr starker Arm nur will, stünde das Räderwerk des ganzen Binnenmarkts still, behaupten sie kämpferisch. Und ihren ständig nörgelnden Gastgebern drohen sie gar, in ein anderes Land umziehen zu wollen. Dann, so EG-Kommissar Cardoso e Cunha, müßten die Belgier zusehen, wo sie blieben, ohne die Milliarde DM, die die Eurokraten angeblich jährlich in dem Königreich ausgeben.

Welche Auswirkungen ein Umzug der mit Anhang und Umfeld auf rund 150.000 Köpfe geschätzten Euro-Gemeinde hätte, können die Brüsseler bereits jetzt studieren. Vor einigen Wochen hat der Exodus aus dem schwarzverglasten EG-Tempel begonnen. Das Berlayemont-Gebäude ist asbestverseucht und soll entweder abgerissen oder zumindest von den Krebs verursachenden Fasern befreit werden. Dazu müssen jedoch erst die über 3.000 Euros, allen voran die 17 EG-Kommissare, die bislang im dreizehnten Stock des Glaskastens thronten, in andere Gebäude umziehen. Tag und Nacht sind deswegen Packer am Werk: Tonnen von Akten, Berge von Papier, reihenweise Büromöbel und Computer werden herumgekarrt. Heerscharen von Technikern installieren neue Telefonanschlüsse, legen Strom- und Computerleitungen und verlegen quadratkilometerweise Teppiche.

Einem Dominospiel gleich zieht der Umzug weitere Umzüge nach sich. Weil die Mitarbeiter in der EG-Zentrale zum größten Teil in nahegelegenen Gebäuden unterkommen sollen, müssen zuerst die dort Beschäftigten ihre Sachen packen. Deswegen begann bereits im Frühsommer, als der Exodus beschlossen wurde, eine weit über die Grenzen der Stadt hinausgehende Suche nach geeigneten Häusern. Schon jetzt belegt allein die EG-Kommission 61 Gebäude, von EG-Ministerrat, Europaparlament und den unzähligen zugeordneten Institutionen und Organisationen ganz zu schweigen. Und obwohl Brüssel europaweit die Stadt mit der größten Bürofläche ist, müssen ständig neue Bürosilos gebaut werden.

Statt mit der Verwirklichung des Binnenmarkts sind viele Eurokraten nun seit Wochen mit dem Überleben im Umzugschaos beschäftigt. Nicht nur wichtige Dossiers verschwinden spurlos, selbst Mitarbeiter sind auf Tage hinaus verschollen, weil von ihnen weder Telefonnummern noch Büroadressen bekannt sind. Die Suche nach Stuhl, Tisch und Lampe gerät indes zur kafkaesken Odyssee, von der zwar der Streik letzte Woche zumindest stundenweise Erholung versprach. Der Ausfall der beamteten Fahrer, BibliothekarInnen und ÜbersetzerInnen eskalierte jedoch noch das Wirrwarr, ein Zustand, der zur Zeit gerne mit dem Turmbau zu Babel verglichen wird.

Von der vielzüngigen Sprachlosigkeit letzte Woche waren auch die Euro-Grünen betroffen, die sich ohne DolmetscherInnen mühsam durch das Labyrinth der neun EG-Sprachen hangeln mußten. Da noch nicht einmal die auf 200 bis 300 Millionen DM geschätzten Kosten für den Umzug der Eurokraten völlig gedeckt sind, muß die reiche EG deswegen die Gehälter ihrer Mitarbeiter verpfänden. Das improvisierte Chaos dominiert jedoch nicht nur die Umzugsarbeiten. Der gesamte Überbau der EG, der geplante Ausbau des weltgrößten Binnenmarkts zu einer politischen Union, scheint davon ergriffen. Weswegen in Brüssel fast niemand mehr glaubt, daß Ende des Jahres im holländischen Maastricht mehr als nur vage Absichtserklärungen verabschiedet werden. Statt dessen verklärt man schon die vergangenen fünf Jahre als das goldene EG-Zeitalter, eine Epoche, die nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und der Wiederbelebung der europäischen Nationalismen unwiderbringlich zu Ende zu gehen scheint. Einzig der EG- Kommissionspräsident, umgeben von einer kleinen Schar Aufrechter, hält hartnäckig an dem Traum fest, noch in diesem Jahrtausend die Vereinigten Staaten von Europa auszurufen. Um seinem Wunsch Nachdruck zu verleihen, droht Delors den zwölf Staats- und Regierungschefs, nach 1992 nicht noch einmal als EG-Chef zu kandidieren, falls sie sich nicht zu einer klaren Entscheidung durchringen. So wie die Dinge liegen, kommt dies allerdings der Drohung der Brüsseler Wasserwerke gleich, man werde sämtliche Toiletten verstopfen, um die ungeklärte Scheißerei zu beenden.