Machtkampf in Algerien

Im Machtkampf zwischen Premier Ghozali und der FLN erlebt die Islamische Heilsfront (FIS) ein unerwartetes Comeback/ Militär verhaftet weiteren FIS-Führer/ Geheimtreffen der Fundamentalisten/ Neuwahlen nicht mehr in diesem Jahr  ■ Von Oliver Fahrni

Algier (taz) — Algier, „Café Brasse“, no man's land für Trotzkisten, Geheimpolizisten und Pariser Lebensgefühl. Nur Chemo-Limo heute, Kaffee morgen, Inschallah. Ein paar haben sich enorme Aktentaschen zugelegt und verteilen schon mal die Weltbank-Millionen, von denen sie keinen Dinar sehen werden. Ihr Trick: sie reden immer in Milliarden, Centimes, versteht sich. Seit dem vergangenen Sonntag, null Uhr, ist der Ausnahmezustand aufgehoben. „Na und?“, sagt Amar, Chefchirurg mit eiskaltem Händchen und eminenter Aethyliker, Präferenz teure Whiskeys. „Hat der Herr von der neuen Freiheit irgendwo irgendwas bemerkt?“

Vor drei Jahren, im Oktober 1988, leitete eine blutig niedergeschlagene Revolte der Kids aus den Armeleute-Vierteln das Ende der FLN-Herrschaft ein. Seither betreibt Präsident Chadli Bendjedid eine zögerliche Demokratisierung und die rasche Privatisierung der Wirtschaft. Die FLN-Nomenklatura klammert sich an die Macht. Derweil werden die Schlangen vor den Bäckereien länger. „Alle wissen“, sagt Amar, „daß Mehl vorhanden ist. Irgendwer organisiert die Knappheit. Die Frage ist nur: Wer? Die Lage ist noch explosiver als 88.“

„Na und?“, lächelt der Oberst im Verteidigungsministerium, und das ist mehr als ein Echo, das ist ein Programm — die Militärs inszenierten das Ende des viermonatigen Ausnahmezustands als Machtdemonstration.

Gezielte Provokationen des Militärs gegen FIS

Erst verhinderten die „Roten Barette“ der Armee und Zivilisten mit großkalibrigen Waffen am 20. September das Freitagsgebet in der „Ibn Badis“-Moschee von Kouba, einer Hochburg der Islamischen Heilsfront (FIS). Dann kündigte der Hohe Sicherheitsrat unter General Khaled Nezzar eine Gesetzesnovelle an, die den Rückgriff auf die Armee auch ohne Ausnahmezustand erlaubt. Gleichzeitig verbot er den Islamisten, außerhalb der Moschee zu beten — eine pure Provokation: Nach Kouba und zur Sunna-Moschee in Bab-el-Oued kommen freitags Zehntausende. Nicht alle finden in der Moschee Platz.

Eine Woche später fuhren während des Freitagsgebetes Panzerwagen auf. Als darauf der provisorische FIS-Sprecher Abdelkadr Hachani in seiner Predigt die „Belagerung der Moscheen“ kritisierte, nahmen Sicherheitskräfte in Zivil den letzten FIS-Chef, der sich noch in Freiheit befand, fest und warfen ihn ins Militärgefängnis von Blida. Dort warten schon Mohamed Abassi-Madani, Ali Ben Hadj und mit ihnen die gesamte FIS-Führungsriege auf ihren Prozeß vor dem Militärgericht. Anklage: „Bewaffneter Aufstand gegen den Staat“, Höchststrafe: Todesurteil.

Mit der Verhaftung Hachanis, wenige Stunden vor Ablauf des Ausnahmerechts, zeigten die Generäle an, daß sie eine Machtübernahme der Islamisten — und geschehe sie durch freie Wahlen — nicht zulassen werden.

Die Islamische Heilsfront hatte 1990 die ersten Lokal- und Regionalwahlen überlegen gewonnen. Fürderhin war klar, daß hinter den Islamisten die Hoffnungen und Ansprüche der algerischen Massen standen. In diesem Sommer sollte ein neues Parlament gewählt werden. Die Armee nahm einen FIS-Generalstreik gegen das von der FLN manipulierte Wahlgesetz zum Anlaß, die Partei Allahs ihrer Führer zu berauben, etwa 8.000 mittlere FIS-Kader in Militärcamps verschwinden zu lassen, den Ausnahmezustand einzurichten und die Wahlen vorerst auszusetzen. Die Wahlen, hat Premier Sid Ahmed Ghozali versprochen, sollen nun Ende des Jahres stattfinden.

Der Streich gegen die FIS diente einem doppeltem Zweck: Zum einen sollte das soziale Netz, mit dem die Islamisten weite Teile der algerischen Gesellschaft unterspannt hatten, zerschlagen werden, zum anderen wollten Nezzar, Bendjedid und Ghozali die gemäßigten Islamisten in eine nationale Koalition zwingen.

Vier Monate Repression und 200 Tote später ist der FIS immer noch da. „Wir können“, sagte letzte Woche ein Mitarbeiter Ghozalis, „die Sache drehen und wenden, wie wir wollen: Wir kommen bei einer politischen Lösung um die Islamisten nicht herum.“

Zwar sind die FIS-Strukturen weitgehend zerstört und unter Kontrolle der Polizei. Mancher hat seinen Bart rasiert, und viele lassen ihre Kamiss, das orientalische Männerkleid, im Schrank. Doch die gemäßigten Islamisten-Parteien „Hamas“ und „Nahda“ hielten der FIS die Stange. In den Quartieren knüpfen verdeckt arbeitende FIS-Mitglieder neue Netze. Und die FIS-Reformisten Said Guechi, Ahmed Marani, Bachir Fqih und Hachemi Sahnouni scheiterten beim Versuch, die Führung der Partei zu übernehmen.

Wie weit Abassi-Madanis Hand aus dem Schatten seiner Zelle in Blida hinausreicht, wurde vergangenen Mittwoch an der ersten nationalen Konferenz der FIS-Bürgermeister und FIS-Departementschef seit dem Ausnahmezustand klar.

Im Kongreßzentrum „Coupole“ bei Algier waren vor der Rednertribüne neun leere Stühle hinter schwarzen Gittern für die FIS-Chefs im Kerker aufgestellt. Dahinter eine Koransure: „Ihr ward am Rande des Abgrundes... und man hat euch gerettet.“ Ikbal Madani, Sohn des Parteigründers, sagte: „Das Regime glaubte, die FIS zu enthaupten. Jetzt findet es sich in einer Sackgase wieder mit einer Bombe in der Hand, die jeden Augenblick hochgehen kann.“

Die Stimmung in der Coupole blieb klamm. Ein paar Allah-u-akbar-Rufe, die FIS-Hymne, zwei, drei Brandreden. Viele Islamisten tun sich schwer mit Abassi-Madanis Strategie — sie verstehen nicht, warum der FIS-Chef das Signal zum allgemeinen Aufstand und Kräftemessen nicht gegeben hat. Einige Gruppen sind abgetaucht und bereiten den bewaffneten Kampf vor. Sie sollen über beträchtliche Waffenlager verfügen — Relikte 30jähriger Klandestinität.

Just die Ruhigstellung dieser Fraktionen, meint Abdelhamid B., ein abgetauchter FIS-Berater, sei Abassi-Madanis herausragende Leistung: „Damit bleibt er der zentrale Gesprächspartner des Regimes. Das läßt sich schon allein daran ablesen, daß die wichtigen Parteien allesamt seine Freilassung fordern.“

Tatsächlich verdichten sich Anzeichen für intensive Diskussionen zwischen Ghozali und den gefangenen FIS-Chefs. Mitte September empfing der Premier Abdelkadr Hachani. Der Vertraute Abassi-Madanis gab sich gemäßigt: Alles, was wir wollen, sagte er dem Regierungschef, ist die Gesundung des politischen Klimas, die Freilassung aller FIS-Gefangenen und die Wiedereingliederung der entlassenen Arbeiter. Das Regime muß die Möglichkeit des politischen Wechsels akzeptieren. Der Rest sind Details.

Kurz nach dem Treffen brachen Ben Hadj und Abassi-Madani ihren Hungerstreik in Blida ab — für viele Zeichen eines möglichen Geheimabkommens zwischen den Islamisten und dem Premier.

Als dann aber die Sicherheitskräfte, ohne Wissen der Regierung, Hachani festnahmen, wurde offenbar, daß um die Islamisten stellvertretend ein Machtkampf zwischen verfeindeten Fraktionen des Regimes ausgetragen wird.

Grob skizziert steht die alte Revolutionsbourgeoisie, die mit dem FLN-Klientelismus großgeworden ist und den Status quo verteidigt, gegen eine neue Bourgeoisie, die sich von der wirtschaftlichen Öffnung Weltbank-Millionen, ausländischen Investitionen und Demokratisierung, Prosperität und Macht erhofft, und dabei auch eine — kurze — Periode eines FIS-Regimes in Kauf nehmen würde.

Die gleiche Spaltung zieht sich durch die Generalität. Ghozali, von den Militärs im Juni eingesetzt, verwaltet diesen Konflikt, neigt aber eher zur zweiten Gruppe. In der FLN organisiert sich die alte Garde um den Obersten a.D. Mohamed Salah Yahyaoui und den geschaßten Premier Mouloud Hamrouche. Ihr wichtigstes Instrument ist das FLN- dominierte Parlament. Die Deputierten blockierten erst wirtschaftliche Reformvorschläge Ghozalis und dann das neue Wahlgesetz. Der Premier fand sich zu Kompromissen bereit, hat aber eine wichtige Schlacht schon verloren: Wie auch immer das Parlament abstimmt, können die Neuwahlen nicht mehr, wie versprochen, in diesem Jahr abgehalten werden — zwischen Wahlgesetz und Wahltag müssen mindestens drei Monate liegen.