Der Putsch der Puppenspieler

Mit Premier Toshiki Kaifu wurde Japans populärster Regierungschef seit Kriegsende abgesetzt/ Die Fraktionsbosse, die Anspruch auf die Nachfolge anmelden, waren alle in den Recruit-Skandal verwickelt  ■ Aus Tokio Georg Blume

Schon am Samstag gebührte ihm nicht mehr die Erstmeldung. Seine offizielle Rücktrittsankündigung war den Nachrichten im Staatsfernsehen gerade noch eine sekundenschnelle Einblendung wert. Jeder größere Konzernboß hätte bei seinem Abtritt mehr Aufmerksamkeit erhalten. Toshiki Kaifu (60) wurde abserviert, so wie er vor zwei Jahren aufgetragen wurde — als eine halbe Portion im höchsten Staatsamt Japans.

Ein Wochenende lang entblößte die Demontage des Regierungschef den immer noch zweifelhaften Charakter der japanischen Demokratie. Plötzlich taten alle so, als hätte es den Premierminister Kaifu nie gegeben. Das Fernsehen zeigte ihn nicht mehr. Die Zeitungen titelten über seine potentiellen Nachfolger. Alle Spitzengespräche in der liberal-demokratischen Regierungspartei (LDP) fanden ohne ihn statt.

Sogar die Oppositionsparteien feuerten ihre Salven bereits auf den mutmaßlich neuen Premierminister ab. Nicht einmal die Kommentaren erwähnten mehr, daß Toshiki Kaifu bis zum heutigen Tage der seit Kriegsende beliebteste Regierungschef im japanischen Volk ist. Keine Umfrage konnte das bisher widerrufen. Stetig hatte der Premierminister (und nicht die Partei) bei Befragungen über die Hälfte der Bevölkerung hinter sich. In Japan kollaborierten auch alle Medien und Parteiinstanzen mit den Putschisten, denn sie vergaßen Kaifu von einem Tag auf den anderen. Doch verlief der Putsch nicht regelwidrig.

Alle zwei Jahre wählt die LDP aus ihren Reihen einen neuen Parteivorsitzenden, dem automatisch das Amt des Regierungschefs zugetragen wird. Tournusgemäß findet diese Wahl am 30. Oktober statt, und von vornherein stand fest, daß Kaifu nicht als einziger Kandidat ins Rennen gehen würde. Zwar galt der amtierende Premierminister bislang als haushoher Favorit; dennoch ist es für die LDP nichts neues, den Spitzenmann alle zwei Jahre auszuwechseln.

Bei seiner Pressekonferenz am Samstag glich Kaifu mehr denn je einem Gefangenem, dem man die Hölle versprochen hatte, falls er bestimmte Aussagen nicht verweigere. Kaifu gehorchte. „Ich habe nichts weiter zu sagen“, wehrte Kaifu alle Fragen über die Modalitäten seines Rücktritts ab. Öffentlich begründete der Premierminister seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur mit dem Scheitern eines neuen Wahlgesetzes.

Kaifu, in seiner Partei mehr David als Goliath, ist Japans erster Regierungschef nach dem Krieg, dem die Berufung aufs Volk nicht zur bloßen Farce gerinnt. Er zeigte seinen Wählern, daß Japans Politiker nicht von Natur aus arrogant sein müssen. Dafür spielte es keine Rolle, ob Kaifu tatsächlich der mächtigste Mann im Land war, so wie die Verfassung es vorschreibt. Alle wußten, daß er das nicht war, daß vielmehr andere, mächtigere das Land aus dem Hintergrund regierten.

Zwei Jahre lang glichen die Tokioter Machtverhältnisse einer vorzüglichen Bunraku-Aufführung, jener hohen Kunst des alten japanischen Puppentheaters. Im Bunraku wird die bunt-bewegliche Puppe von ihrem in schwarz gekleideten Dirigenten auf die Bühne geführt — Puppe und Dirigent bleiben beide während des gesamten Spiels für den Zuschauer erkennbar. Wird die Puppe aber gut geführt, vergißt der Zuschauer bald den eigentlichen, hinter ihr stehenden Akteur.

So vergaßen die Japaner über Kaifu ihre wirklichen Regenten, jene altersgrauen Fraktionsbosse der Regierungpartei, die erst an diesem Wochenende ihr Puppenspiel beendeten und selbst wieder auf die Bühne traten.

Der frühere Außenminister Mitsuzuka (64), der 71jährige Elite- Bürokrat Kiichi Miyazawa und Michio Watanabe (68), ein Provinzbaron und nationalistischer Sprücheklopfer — das sind die Fraktionsfürsten, die der Regierungspartei nun zur Auswahl fürs höchste Amt zur Verfügung stehen. Das entscheidene Votum gibt die größte der fünf Parlamentsfraktionen innerhalb der LDP ab, die bisher Kaifu unterstützte und über keinen eigenen Kandidaten verfügt. Wird man bei der Wahl auch nur ein kleines bißchen Rücksicht auf außenpolitische Erfordernisse nehmen, dürfte Miyazawa das Rennen gewinnen. In der Vergangenheit geriet Watanabe insbesondere in den USA aufgrund seiner überzogen nationalistischen Klänge wiederholt in die Schlagzeilen und erntete auch zu Hause vehemente Kritiken.

Allen Kandidaten haftet jedoch ein noch frischer Skandalgeruch an. Sowohl Miyazawa als auch Watanabe gehörten zu den Schlüsselfiguren im sogenannten „Recruit- Cosmos-Skandal“, der vor zwei Jahren Nippons politische Landschaft einem Erdbeben gleich aufwühlte. Fast alle Fraktionsgrößen der LDP wurden damals der Aktieninsidergeschäfte mit der Immobilienfirma Recruit Cosmos überführt — erst diese Enthüllungen ebneten dem bis dato kaum in Erscheinung getretenen Kaifu den Weg zu Macht. Seine Aufgabe war es fortan, der Regierungspartei nach einer verheerenden Wahlniederlage im Sommer 1989 wieder auf die Beine zu helfen, ihr öffentliches Image zu konsolidieren und die Unterhauswahlen im Februar 1990 zu gewinnen. Alles gelang ihm. Er manövrierte sogar seine charismatische Gegenspielerin, die Oppositionschefin Takako Doi, ins politische Aus. Doi mußte im Sommer dieses Jahres zurücktreten.