Mehr Liebe als Kabale

■ Thomas Reichert beschleunigt Schillers Ständedrama

Die Schauspieler in Hannovers Ballhof agieren auf einer schiefen Ebene. Die Welt ist aus der Horizontalen gekippt. Im spitzen Winkel ragt die Bühne ins Publikum. Eine gigantische Litfaßsäule ist mit den Texten des Schillerschen Dramas beklebt. Noch einmal überklebt erscheint die Schrift wie ein fernes, unverständliches Echo, aus dem einzelne Worte und Phrasen in Majuskeln hervorleuchten. Um diese Säule herum haben die Schauspieler ihre Auftritte. Die Szenerie wird das ganze fünfaktige Drama hindurch unverändert sein. Ebenso unverändert bleibt die gleichmäßige Ausleuchtung der Bühne, ein Licht wie in einem Laboratorium, wo die Seelen zur Vivisektion freiliegen.

Dem Regisseur Thomas Reichert gelingt durch dieses Arrangement eine ungeheuerliche Beschleunigung des Schillerschen Ständedramas. Der Blick verweilt nicht mehr länger im Dekor von Kulisse und Kanzlei, Boudoir und Bürgerstube. Gleichzeitig wird aber auch die ganze unwahrscheinliche Intrigenkonstruktion des Stückes deutlich und eine unmögliche Dramaturgie. Eben noch schwört man sich ewige Liebe, und im nächsten Augenblick zweifelt Ferdinand schon an Luisens Liebe und vermutet einen Kerl, der möglicherweise genießt, wo er anbetet. Und das alles nur, um so der im folgenden vom Sekretär Wurm eingefädelten Eifersuchtsintrige einen schwachen Anschein von Glaubwürdigkeit zu geben.

Reicherts Lesart von Kabale und Liebe schert sich weniger um die Kabale als vielmehr um die Liebe. Ihn schert auch nicht der Bildungsbürger Schiller, sein Kampf gegen Standesschranken und um Selbstbestimmung. Reicherts Blick geht vielmehr auf das Opernhafte des Stücks, auf das große Gefühl, auf die individuelle Sinnsuche, das Streben nach Klarheit und Wahrheit, nach einer verbindlichen Moral vor den Intrigen und Korruptionen des kleinstaatlich-absolutistischen Hofes. (Das Programmheft ziert Matthias Horx mit seinem Plädoyer für einen neuen Konservatismus der Vernunft und Aufklärung in den neunziger Jahren.)

So konzentriert sich Reicherts Blick ganz auf die Psychologie und die monologische Selbstdarstellung der beiden Liebenden, die er, isoliert in ihrem großen Gefühl, mit dem sie vollauf genug zu tun haben, ganz statuarisch und opernhaft inszeniert. Zugleich zeigt er uns Kinder, die durch ihre Sozialisation in Abhängigkeit gehalten und von ihren Vätern kaputtgemacht worden sind. Luise durch die egoistisch-sentimentale Liebe des Stadtmusikus Miller, Ferdinand durch die machtpolitisch kalkulierende Zuneigung des Präsidentenvaters.

Wer seinen Blick solcherart auf die Schillersche Sprache konzentriert, indem er sich aller Accessoires als lästiges Beiwerk entledigt, müßte allerdings dieses Urvertrauen in die Sprache auch inszenieren. Leider gebricht es der Aufführung daran. Reichert stört und fragmentiert den rhapsodischen Sprachduktus der Schillerschen Verse auf modische Weise. Aber die Schillerschen Protagonisten sprechen nun einmal nicht wie in der Kneipe oder im Nobelpuff üblich. Wenn man sich die Milford als Luxusnutte vorstellt, was so neu nun auch wieder nicht ist, so machen doch nicht Nerz und modische Lederjacke die Statur. Die Milford ist gefährlich und großzügig zugleich; und sie ist eine große Liebende und darin verletzlich. Ihre aristokratische Klasse bringt sich besser in leisen Tönen zum Ausdruck denn durch den Narzißmus eines bald schreienden und tobenden, bald hüftenschwenkenden Vamps.

Die Affinität der Inszenierung zum prosaischen Alltag hier und heute führt oft zu unfreiwillig komischen Effekten, besonders in der Selbstmord- und Sterbeszene. Ferdinand trottet in der Regel wie ein Bär, der unter seiner Leibesfülle leidet, bald kieksend, bald sich stimmlich überschlagend, über die Bühne. Gefühlseruptionen, an denen es ihm nicht mangelt, setzt er stimmlich brachial um. Luise, mager wie ein Storch im Salat, im ewig gleichen Armeleutefähnchen, wirkt immer etwas geistesabwesend und somnambul. Beide sind alles andere als das klassische Liebespaar. Zum Ende hin wirkt Luise immer durchscheinender und abwesender, wogegen ihr Sprachduktus und ihre Modulation jedoch immer präziser und nachdrücklicher werden.

Die Versöhnungsszene der Väter über den von eigener Hand gestorbenen und eigentlich doch von den Vätern gemeuchelten Kindern hat der Regisseur gestrichen. Mit solcherart zeitverschobener Aufgeklärtheit und falscher Harmonisierung hat er zu Recht nichts im Sinn. Michael Stoeber