Schrei aus Kunststein

Bei der WM im Freeclimben in Frankfurt hingen die Steiger wie Geckos am künstlichen Berg, als ob es keine Schwerkraft gäbe. Nur der Favorit war erdenschwer und schied aus  ■ Aus Frankfurt Andreas Lampert

Hanging ovations. In 15 Meter Höhe klammert sich desperat ein menschliches Wesen an ein zapfenähnliches Gebilde und versucht der Schwerkraft einen Streich zu spielen. Keinen halben Meter darüber gibt es in der Wand ein drei Millimeter tiefes Loch, in das zwei Finger hineinpassen. Der rettende Griff, keinen halben Meter entfernt, unerreichbar. Am Pinökel mußte es zu einer Entscheidung kommen.

So hatten es die Routenbauer des Finals der ersten Weltmeisterschaft der Sportkletterer beschlossen, und machten sich dafür die Naturgesetzte auf unverschämte Weise zu Nutze. Denn auch im künstlichen Scheinwerferlicht der Halle erwies sich die Erdanziehung als gnadenlos.

Die Stadt Frankfurt, um keine prestigeträchtige Sportveranstaltung verlegen, hatte die besten Freikletterer der Welt versammelt, um in der Ballsporthalle zu Hoechst die erste Weltmeisterschaft im Sportklettern auszutragen. Dazu müßte eine künstliche Wand errichtet werden, da die Hügel des Taunus keine echte Herausforderung waren.

Knapp 600.000 Mark war der gigantische künstliche Fels (15m hoch, 26m breit, 8m überhängend) teuer, der dramatisch wie eine Figur aus einem Max-Ernst-Gemälde in den Raum ragte. Ein Konstruktionsteam tüfftelte im Vorfeld über ein Jahr, um eine konkurrenzlose Wand präsentieren zu können.

Noch einige Wochen zuvor herrschte Großalarm, als Gerüchte von einer besseren Wand in Frankreich kursierten. Der Spion, der ausgesand wurde, kehrte jedoch mit froher Kunde heim: Entwarnung, weit und breit nichts.

Die deutschen Hoffnungen bei dieser WM ruhen in den Finger- und Zehenspitzen von Stefan Glowacz, der sich, wo er auch auftaucht, als redseliges Arbeitstier für „free climbing“-Propaganda einsetzt.

Im April dieses Jahres sorgte der Bayer für Aufruhr in der Stadt, als er problemlos in sieben Stunden die Fassaden von sieben Bank- und Bürogebäuden in Frankfurt hinaufkletterte. Die gleichmäßig und berechenbar angefertigten Manifestationen des Kapitalismus stellten für den 26jährigen, der als schönster Mann der Szene gehandelt wird, keine Herausforderung mehr dar. Der Weltmeistertitel an der Kunstwand sollte dies bestätigen.

Zeitgleich mit der WM lief in deutschen Kinos das Herzog'sche Kletterdrama Schrei aus Stein an, in dem sich Glowacz als jugendlicher Draufgänger und Weltmeister mit einem Bergsteigerhaudegen alter Schule mißt. Fiktion und Realität schienen im perfekten Timing vom PR-Haken abgesichert.

Im Wettkampf traf ihn jedoch der Fluch des Kunstbergs. Die schwierige Achtelfinalroute meisterte Glowacz bis zum Meter 10.63, als er mit dem linken Fuß abrutschte und am siebten Sicherungshaken für einen Bruchteil Halt fand. Die Wettkampfbestimmungen nennt die „Verwendung eines künstlichen Hilfspunktes“ als regelwidrig und beendete dort den Aufstieg.

Die Lässigkeit, mit der man die Entscheidung zunächst aufnahm (Glowacz lag zum Zeitpunkt des Unglücks an zweiter Position), wandelte sich bald in jähes Entsetzen. Im Verlauf stellte sich heraus, daß für das Erreichen der nächsten Kletterrunde drei Zentimeter fehlen. Heftigste Proteste des deutschen Teamchefs Wolfgang Pohl, der seinen Überflieger abgestürzt sah, verloren sich echolos am Richterpult.

Die Zuschauer, die zum Finale erschienen waren, mußten trotzdem nicht enttäuscht sein. Unter den letzten Sechs befand sich mit Guido Köstermeier ein Deutscher, der sich überraschend qualifizieren konnte. Mit einer großen kämpferischen Leistung kletterte er sich mit 24,02 zurückgelegten Routenmetern bis knapp an den ominösen Gipfel heran. Das war Bronze wert.

Die Dramaturgie des Wettkampfs wollte es, daß der grazile Japaner Yuji Hirajama, als vorletzter Kletterer gerade an zwei Finger hängend, die Nerven besaß, daß mittlerweile sich in bester Polonaise-Stimmung befindende Publikum höflich zurechtweisend um Ruhe zu bitten. Als er jedoch wenig später am Pinökel hing, konnten nervenschwache Zuschauer nicht anders, als sich ihrer Anspannung durch hysterischen Applaus zu entledigen.

Der letzte Kletterer war schließlich eine Klasse für sich. Gleich einem Gecko klebte Francois Legrand an Überhängen und Steilwänden. Als ob er mit der Gravitation einen Pakt geschlossen hätte, strebte der Franzose zügig und leidenschaftlich dem Gipfel entgegen. Am Zapfen verweilte er nur kurz, die bislang als unerreichbar geltenden Griffe traf er traumhaft sicher. Der Weltmeister war der einzige, der die mit „10“ eingestufte Route zu Ende klettern konnte.

Bei den Frauen setzte sich die Schweizerin Susi Good gegen den Kunstberg durch. „Allez, Susi!“, dachten die meisten und schrienen einige der Zuschauer. Dann, endlich, kam der rettende Griff. Hanging ovations.