Grabesruhe herrscht in Haiti

■ Nach dem Putsch und den Massakern in Haiti festigt die Militärjunta ihre Macht/ Über 1.000 Tote?/ OAS-Außenministermission kehrt erfolglos nach Washington zurück/ Vorerst weder Sanktionen noch Militärintervention

Port-au-Prince/Berlin (wps/taz) — In strahlender Sonne stromern Soldaten an geschlossenen Geschäften vorbei, die Straßen sind leer, die Krankenhäuser voll: Port-au-Prince nach dem Putsch ist eine von Angst gelähmte Stadt. Verkohlte Barrikaden, stumme Zeugen eines erloschenen Widerstandes, säumen die Zufahrtswege zu den Slums, Präsident Aristides politischer Heimstatt.

Geschäfte, Banken und Büros waren bereits geschlossen, als die „Lavalas“-Bewegung des gestürzten Präsidenten am Freitag zum Generalstreik aufrief. Seitdem funktioniert im Land nichts mehr. Zwischen sechs Uhr abends und sechs Uhr morgens herrscht Ausgangssperre. Das Fernsehen sendet Appelle für Ruhe und „Patriotismus“.

Der strahlend weiße Präsidentenpalast ist von Einschußlöchern übersät, wie Pockennarben. Auf der Straße liegen die Reste des grünen Eingangstors. Vor dem Haupteingang steht ein Maschinengewehr, auf die Straße gerichtet. Einziger Schein von Normalität: die tägliche Militärzeremonie um fünf Uhr nachmittags, bei der die Staatsflagge feierlich eingeholt wird.

Im Zentralhospital wälzt sich der 15jährige Jean-Robert Louis in seinem Bett, einen blutdurchtränkten Gipsverband um das linke Bein. Er hat Schmerzen, ruft nach einem Arzt. Er ist einer von Dutzenden verschwitzter, blutender Verletzter, in einem Raum ohne Ärzte oder Krankenschwestern, mit schmutzigen Bandagen und Müll auf dem Fußboden verstreut. „Ein Mensch wurde erschossen“, erzählt Louis. „Ich ging hin, um zu gucken. Plötzlich rannten alle weg. Mich hat es erwischt.“ Auf dem Fußboden des Wartesaals wird eine Frau mit Schußwunden in beiden Beinen behandelt: Nur ernste Notfälle werden noch angenommen, doch es herrscht hoffnungslose Überfüllung.

Soldaten drangen am Sonntag in das Parlamentsgebäude ein, wo Abgeordnete den neuesten Vorschlag der Putschisten diskutierten: die Einsetzung einer „Interimsregierung“ unter Leitung von Joseph Nerette, Präsident des Obersten Gerichtshofs. Er soll formell den bisherigen Premierminister Preval ablösen, der sich zur Zeit versteckt hält.

Gestern sollte der Senat über den Vorschlag entscheiden. Die Abgeordneten sind gespalten. Während die Militärjunta der Übergangsregierung für vorerst 90 Tage die Regierungsgewalt übertragen will, fordert die aristidetreue Linke, daß Nerette die Rückkehr Aristides aushandelt und dann die Macht wieder abgibt. Die Junta will aber nicht, daß Aristide zurückkommt. Dies machte sie auch den OAS-Außenministern klar, die sich am Wochenende zu Gesprächen in Port-au-Prince aufhielten. „Sie kamen mit Gewißheiten und gingen mit vielen Zweifeln“, kommentierte ein haitianischer Politiker die OAS-Mission. Zurück in Washington, kamen die Außenminister lediglich überein, mit Port-au- Prince weiter im Gespräch zu bleiben. Sanktionen gegen die Putschisten sind trotz des Säbelrasselns einiger OAS-Mitglieder letzte Woche nun nicht mehr vorgesehen.

1.000 Menschen sind nach Angaben der haitianischen Botschaft in Bonn seit dem Putsch in Haiti getötet worden. Allein im Zentralkrankenhaus zählte ein Journalist am Wochenende 372 Leichen. In vielen Teilen von Port-au-Prince liegen noch immer Leichen auf den Straßen: Die Armee hat ihre Bergung verboten. Um die Leichenhalle der Stadt zu besuchen, ist eine Militärgenehmigung notwendig. Inzwischen mehren sich die Schauergeschichten.

Zum Beispiel die Armensiedlung „Carrefour“: Allein am Mittwoch nachmittag wurden hier 30 bis 40 Menschen erschossen, berichten Augenzeugen. Zwei Soldaten seien mit brennenden Autoreifen um den Hals hingerichtet worden; daraufhin seien Soldaten von Haus zu Haus gezogen, um Leute wahllos zu erschießen. Slumbewohner wurden gezwungen, Löcher zu graben und die Toten darin zu verscharren.

Zum Beispiel das Slumviertel „Cité Soleil“: 200 Menschen wurden hier getötet, sagt die bisherige Informationsministerin Marie-Laurence Jocelyn-Lassegue. Viele Leichen aus diesem Viertel und aus Carrefour sollen in Massengräbern nördlich der Hauptstadt liegen, im Armenfriedhof von Titanyen.

Zum Beispiel die Vorstadt „Waney“: 30 Menschen sollen hier am Donnerstag erschossen worden sein, wiederum als Racheaktion der Armee nach dem Tod einiger Soldaten.

Oder das von Aristide geleitete Waisenheim in Port-au-Prince: Wie Leiter Milius Lubrun berichtete, wurde bereits am Montag ein 17jähriger vor dem Heim erschossen. Als am Dienstag die Heimbewohner auf die Suche nach ihrem toten Freund gingen, richteten Soldaten unter ihnen ein Blutbad an. Mindestens fünf Kinder sind tot.

Auf dem Land sieht es nicht anders aus. In der zweitgrößten Stadt Haitis, Cap Haitien, wurde die Ausgangssperre letzte Woche nicht eingehalten; genauere Berichte gibt es nicht. In Gonaives, der drittgrößten Stadt, wurde am Montag der populäre Radiojournalist Jacques Gary Simeon ermordet. Am Mittwoch starben hier weitere neun Menschen.

All diese Berichte beziehen sich auf die ersten Tage nach dem Putsch. Am Freitag verbot die Militärjunta jedoch den haitianischen Medien, Nachrichten zu verbreiten, die die Bevölkerung „aufwiegeln“ könnten. Seitdem herrscht tagsüber in den Slums oberflächliche Ruhe. Doch während der nächtlichen Ausgangssperre, so berichten Journalisten, gehen die Morde weiter.

Die Zielstrebigkeit, mit der die Junta ihre Macht auch gegenüber dem Ausland verteidigt, hat Vermutungen verstummen lassen, der Putsch könnte spontan aus einer Revolte einfacher Soldaten entstanden sein. Der gestürzte Aristide lieferte vergangene Woche vor der OAS seine eigene Version des Geschehens ab. „Am Samstag, dem 18. September, gab es Gerüchte über einen möglichen Putsch“, sagte er. „Ich rief General Cedras an und sagte ihm, er sollte diesen Gerüchten nicht glauben. Er teilte meine Skepsis, und wir lachten gemeinsam.“ Am Sonntag abend hätten jedoch Soldaten die nationale Radiostation besetzt und den Direktor erschossen. „Meine Residenz wurde umstellt und beschossen“, erzählte Aristide. „Ich konnte nicht hinausgehen. In den Straßen eröffnete das Militär das Feuer auf die Menge; um fünf Uhr morgens wuchsen schon die Leichenberge. Daß ich die Residenz lebend verlassen konnte, habe ich mehreren Botschaftern zu verdanken“ — vor allem denen der USA und Frankreichs. Aristide erreichte seinen Präsidentenpalast; es war Montag vormittag. „Ich rief General Cedras an, und er erzählte mir, er selbst und seine Frau seien Geiseln der Rebellen.“ Er verließ den Palast, um mit den Rebellen zu verhandeln, wurde jedoch statt dessen gefangengenommen und zum Armeehauptquartier gebracht. „Cedras war da, freudestrahlend, lächelte ruhig und erklärte, von nun an sei er Präsident. Cedras machte einen sehr stolzen Eindruck. Es wurde gefeiert.“ Dann hätten die Putschisten beraten und ihm gestattet, nach Venezuela zu fliegen. D.J.